Leseprobe
Thomas Synofzik, Barbara Schwendowius, Richard Lorber (Hg.): 50 Jahre Alte Musik im
WDR 1954-2004. 320 S., ca. 250 teils vierfbg. Abb., inkl. 2 CDs, ISBN 3-9803578-5-6,
28,50 EUR;
zu beziehen über unseren Online-Shop oder über den Buchhandel
Einleitung
Am 18. September 1954 gab die Cappella Coloniensis im Kölner Funkhaus am Wallrafplatz
ihr Gründungskonzert und war damit das erste Orchester, das sich zur Wiedergabe 'alter'
Musik konsequent des Instrumentariums und der Spielpraktiken ihrer Zeit bediente. Die
jüngere Vergangenheit hatte Deutschland in kurzem Abstand zweimal in den Krieg geführt,
Köln lag noch immer zu großen Teilen in Trümmern darnieder. Die etablierten deutschen
Orchester krankten am Verlust der jüdischen Musiker. Nun besann man sich zurück auf
eine (vermeintlich) goldene Vorvergangenheit -- entsprechend taufte später
WDR-Mitarbeiter Alfred Krings ein von ihm betreutes Barockorchester auf den Namen
Collegium aureum. Fast postmodern mutet es an, wenn WDR-Hauptabteilungsleiter
Edmund Nick 1954 die Cappella-Gründung der um sich greifenden Technisierung in Form
von Überschallgeschwindigkeit, Atombombe und Fernsehen gegenüberstellte.
Was zuvor nur durch Hilfe adeliger oder industrieller Mäzene möglich gewesen war, machte
sich nun der Rundfunk zu eigen. Der hatte Sendebedarf. Auch wenn nicht alle
'Knabenblütenträume' wie die Festanstellung der Cappella-Musiker oder die parallele
Gründung eines Knabenchors reiften, so kann doch die Prophezeiung des
Gründungsmemorandums der Cappella Coloniensis (zum 1. Januar 1953) aus heutiger
Sicht als erfüllt gelten: "Nach der Struktur des heutigen Musiklebens ist überhaupt nur der
Rundfunk imstande, einen solchen Plan zur Durchführung zu bringen, denn es bedarf einer
längeren Anlaufzeit und geldlicher Mittel, wie sie heutzutage eben nur dem Rundfunk zur
Verfügung -stehen. Dafür wird derjenige Sender, der es fertig bringt, ... sich das größte
Ansehen erwerben ... Wir können mit der systematischen Produktion -dieser Musik uns eine
Ausnahmestellung schaffen."
Durch die so in Nordwestdeutschland verbreiteten neuen Klangwelten gewann 'alte' Musik
auf einmal eine jugendliche Kraft, die junge und alte Hörer in ihren Bann zog. Schnell war
auch das Interesse der Schallplattenindustrie erwacht: Das auf Produktionen mit Alter
Musik spezialisierte Label der Archiv Produktion der Deutschen Grammophon-Gesellschaft
führte schon am 21. Juni 1955 eine erste eigene Produktion mit der Cappella Coloniensis durch.
Kaum weniger bedeutsam als der Aspekt der Spielweise war jener der Erschließung
unbekannter Repertoire-Bereiche: 50 Jahre Alte-Musik-Arbeit im Westdeutschen Rundfunk
hat unbekannte Schätze ans Licht treten lassen. Teilweise stammten diese aus
nordrhein-westfälischen Sammlungen wie im Falle der hochbedeutenden Santini-Sammlung
in Münster oder der fürstlichen Musiksammlungen in Rheda und Herdringen oder sie hatten
rheinländischen Bezug wie die vom WDR gemeinsam mit der Schallplattenindustrie
vorgelegte Einspielung des Gesamtwerks der rheinischen Mystikerin Hildegard von Bingen.
Noch häufiger aber wurden auch entlegene Quellen beispielsweise aus Bibliotheken der
DDR, aber auch aus London, Berlin, Wien und Brüssel als Mikrofilm bestellt und in der
Redaktion in moderne Notation übertragen.
Lag der Endpunkt dessen, was als Alte Musik definiert wurde, zunächst bei 1800, so wurde
schon früh die Schwelle zum 19. Jahrhundert durchbrochen. Die Cappella Coloniensis, das
frühere 'Barockorchester des Westdeutschen Rundfunks' nimmt heute Wagner-Opern auf,
die belgischen Kuijken-Brüder (seit 1966 dem WDR durch Produktionen verbunden) sind
bei Debussy angekommen. Die romantische Spielweise, von der sich die
Alte-Musik-Bewegung in ihren Anfängen zu distanzieren suchte, muss inzwischen neu
entdeckt werden -- der historisierende Ansatz ist damit auf einer neuen Stufe angelangt.
Das WDR Sinfonieorchester Köln veranstaltet seit der Saison 2002/03 einen festen Zyklus
mit Gastdirigenten aus dem Bereich der Alten Musik (Klassik heute). Konzentrierte man
sich hier zunächst auf das Repertoire des 18. Jahrhunderts, so wurden bei anderen
Radio-Sinfonieorchestern die Grundsätze historischer Aufführungspraxis auch für jüngeres
Repertoire nutzbar gemacht: von John Eliot Gardiner, der schon ab 1979 mit der Cappella
Coloniensis arbeitete, 1991-94 mit dem NDR-Sinfonieorchester und von Roger Norrington
mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Viele der Konventionen, die die
Cappella Coloniensis seit 1954 zu überwinden suchte, entstanden erst Anfang des 20.
Jahrhunderts: das kontinuierliche Vibrato, die Besaitung der Streichinstrumente mit
Stahlsaiten und die Bevorzugung von Metallflöten gegenüber den traditionellen Holzflöten.
Die Arbeit an unserem Buch-Projekt förderte immer wieder Über-raschendes zutage, löste
Erstaunen aus über das, was schon in den 50er und 60er Jahren geleistet oder zumindest
angedacht wurde. Verschollen geglaubte Schätze konnten im WDR-Schallarchiv wieder
aufgefunden werden -- und sind auf den beiliegenden CDs erstmals zugänglich gemacht.
Wichtige Vorarbeiten zu den hier dokumentierten Forschungen in Form von Interviews und
Aufarbeitung von Archivmaterialien leistete ein von Thomas Synofzik an der Hochschule für
Musik Köln durchgeführtes Hauptseminar zum Thema "Alte Musik in Köln" im
Sommersemester 2003. Zu danken ist allen Autoren, aber auch jenen, die das Projekt
durch Ideen, Anregungen und tatkräftige Hilfe unterstützt haben. Nicht zuletzt gilt unser
Dank dem Verleger Johannes Jansen, der diese Publikation mit viel Sachverstand und
großem Engagement begleitet hat.
Die Herausgeber
Thomas Synofzik, Barbara Schwendowius, Richard Lorber
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