Vermischte Nachrichten
Berichte teilweise älteren Datums als Leseprobe u. a. aus Ansbach, Bad Köstritz und Weißenfels, Berlin, Bonn, Eisenach, Göttingen, Kirchheim, Potsdam, Salzburg, Wetzlar und Wien sowie Mitteilungen in eigener Sache sind hier ebenso zu finden wie eine Würdigung des Komponisten Philipp Heinrich Erlebach aus Anlass seines 300. Todestages:
Berichte
... kurz notiert ...
HAMBURG Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg hat mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder eine Partiturhandschrift von Händels ›Der Messias‹ erworben. Dabei handelt es sich um ein nach 1772 entstandenes Manuskript der Chöre sowie von vier Solosätzen des Oratoriums mit deutschsprachigem Libretto. Der im Original englischsprachige ›Messias‹ (Messiah) wurde u. a. in Hamburg 1772 durch Michael Arne, 1775 durch C. Ph. E. Bach, in Berlin und Leipzig 1786, in Breslau 1788 und 1781 in Weimar mit deutschen Textfassungen von Dichtern wie Christoph Daniel Ebeling, Friedrich Gottfried Klopstock und Johann Gottfried Herder aufgeführt. Die jetzt erworbene Handschrift entspricht jedoch keiner der bislang bekannten deutschen Librettovarianten. Information: www.kulturstiftung.de und www.sub.uni-hamburg.de
INNSBRUCK Aus dem 15. Innsbrucker Gesangswettbewerb für Barockoper ›Pietro Antonio Cesti‹ ist der Countertenor Maximiliano Danta siegreich hervorgegangen. Der 1993 geborene Uruguayer wurde in Italien ausgebildet; in Deutschland war er im Frühjahr 2024 schon als Teagene in Agricolas ›Achille in Sciro‹ an der Oper Altenburg-Gera zu erleben. Den zweiten Platz ersang sich Sopranistin Jiayu Jin und den dritten Mezzosopranistin Brenda Poupard; den Publikumspreis durfte Countertenor Pelka Vojtěch entgegennehmen und den Nachwuchspreis Mezzosopranistin Ekaterina Chayka-Rubinstein. Die Veranstalter verzeichneten in diesem Jahr einen Anmelderekord mit 212 Kandidatinnen und Kandidaten, von denen sich elf für das Finale qualifizieren konnten, bei dem eine Arie aus der Vivaldi-Oper ›Il Giustino‹ zum Pflichtprogramm gehörte. Information: www.altemusik.at
LEIPZIG Die ›Serenate ex C‹, ein kleines Stück aus dem Bestand der Musikbibliothek der Leipziger Städtischen Bibliotheken, wurde als ein Werk von Wolfgang Amadeus Mozart identifiziert. Aufgefallen war die Abschrift bei der Arbeit an der Neuausgabe des Köchel-Verzeichnisses im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum. Das bislang völlig unbeachtet gebliebene Werk, jetzt mit der Nummer KV 648, besteht aus sieben Miniatursätzen für Streichtrio, die zusammen nur etwa zwölf Minuten dauern. Mozart dürfte sie noch vor seinem 13. Geburtstag für seine Schwester geschrieben haben. Information: www.mozarteum.at
LEIPZIG Beim XXIV. Internationalen Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerb 2024 wurden unter 108 Teilnehmern aus 19 Ländern in den Fächern Orgel, Gesang und Violoncello/Barockvioloncello die diesjährigen ›Bachpreisträger‹ ermittelt. Das Finale bestritten 18 junge Musikerinnen und Musiker aus acht Nationen: In der Sparte Orgel siegte Julian Emanuel Becker aus Deutschland, gefolgt von Jakub Moneta (Polen) vor Grant Smith (USA). Den Gesangswettbewerb gewann die Schweizerin Lara Morger vor Anton Haupt und Elena Elsa Tsantidis (beide Deutschland). Die Preise im Fach Violoncello gingen an den Spanier Victor Garcia Garcia vor Johannes Gray (USA) und Bartolomeo Dandolo Marchesi (Italien). Der seit 1996 zweijährlich stattfindende Wettbewerb ist offen für Kandidaten im Alter zwischen 16 und 33 Jahren und setzt Podiumsreife und Erfahrungen in der Aufführungspraxis der im Wettbewerbsprogramm geforderten Stilepochen voraus. Derzeit wird er strukturell neu ausgerichtet. Anstelle einer Biennale mit jeweils drei Wettbewerbssparten wird künftig jährlich ein wechselndes Fach im Fokus stehen; der Veranstaltungszeitraum wird vom Juli in den März verlegt – mit einem Finale am 21. März, dem Bach-Geburtstag. Die Künstlerische Leitung übernimmt Bachfest-Intendant Michael Maul. Der Bach-Wettbewerb 2025 wird im Fach Klavier und in Kooperation mit der Julius Blüthner Pianofortefabrik, dem Mitteldeutschen Rundfunk und dem Gewandhaus zu Leipzig vom 13. bis 21. März 2025 ausgetragen. Den Juryvorsitz hat die britische Pianistin und Leiterin der Klavier-Abteilung des Londoner Royal College of Music, Vanessa Latarche. Für die Folgejahre sind die Fächer Violine (2026), Gesang (2027) und Historische Tasteninstrumente (2028) geplant. Die Bewerbungsfrist für 2025 endet am 15. November 2024. Information: www.bachwettbewerbleipzig.de
WEIMAR Trotz anhaltender Proteste fiel Anfang Juli die Entscheidung, das Institut für Alte Musik der Hochschule für Musik ›Franz Liszt‹ zu schließen. Hochschulrat und Senat begründeten die Maßnahme mit Sparzwängen und zu geringer Nachfrage. Die Alte-Musik-Studiengänge und betreffenden Stellen sollen wegfallen und ab dem Wintersemester 2026 keine neuen Studierenden mehr aufgenommen werden. Ausgebaut werden hingegen die Bereiche Musikpädagogik und Kulturmanagement; auch die Einrichtung eines Studienganges Musiktherapie ist im Gespräch. Unbeeindruckt von den Schließungsplänen bietet das Institut für Alte Musik in Weimar in der Zeit vom 1. bis 7. Februar 2025 unter dem Motto ›Von Renaissance zu Barock‹ einen interdisziplinären und spartenübergreifenden Workshop an. Schwerpunktmäßig geht es um die für die europäische Musik entscheidende Zeitenwende um 1600. Im Mittelpunkt der Kurse, die sich sowohl an Auswärtige als auch an schon in Weimar Studierende wenden, sind die radikalen Neuerungen, die sich damals auf allen Feldern der Künste und Wissenschaften vollzogen. Anknüpfend an frühere Projekte und (optional) als Hinführung zu einer großen Aufführung im Sommer 2025 im Rahmen der Bach Biennale Weimar sind die ersten drei Tage dem Tanz und der Szenographie gewidmet. Ab dem vierten Tag werden in einem zweiten Block mit verschiedenen Unterrichtsformaten die vielfältigen musikalischen und kulturhistorischen Aspekte des Themas ausgelotet. Zum Abschluss am Freitag, dem 7.2.2025, werden die erarbeiteten Werke, Tänze und Szenen öffentlich aufgeführt. Die zur Wahl stehenden Fächer und ihre Leiter, ergänzt um Vorträge weiterer Dozenten, sind Bernhard Klapprott (hist. Tasteninstrumente), Lina Tur Bonet (Barockvioline/-viola), Olaf Reimers (Barockvioloncello), Imke David (Viola da gamba, Violone), Myriam Eichberger (Blockflöten/-consort) und Ian Harrison (hist. Improvisation). Die beiden Teile der Workshops vom 1.-3.2. (Tanz, Szenographie) bzw. 4.-7.2. (Musik, Tanz, Bühnenarbeit und Vorträge) können zusammen oder auch einzeln gebucht werden; die Teilnahme ist gebührenfrei. Die vorhandenen Plätze werden in der Reihenfolge der Anmeldungen vergeben; Übernachtungsmöglichkeiten können vermittelt werden. Anmeldung (bis 26.1.2025) und Kontakt unter: courses.ifamweimar@gmail.com
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B e r i c h t e
Thüringer Nachrichten, und nicht nur schlechte ...
Das Bachhaus Eisenach erweitert seine Instrumentensammlung
Während Weimar durch die am 1. Juli 2024 besiegelte Schließung des Instituts für Alte Musik ärmer zu werden droht, freut man sich in Eisenach über einen bedeutenden Zugewinn: Die Schätze des Instrumentenbauers Günter Hett aus Bergisch Gladbach bekommen im Bachhaus eine neue Heimat. Auf dem Foto sieht man den 82-jährigen Sammler in seinem Wohnzimmer mit einem Double-Bell-Euphonium, im Hintergrund Vitrinen mit anderen Instrumenten; etliche davon hat er nach historischen Vorbildern selbst gebaut. Insgesamt sind es rund 450 Instrumente, mit denen sich der Bestand des Bachhauses nun nahezu verdoppelt. 150 aus Museumssicht besonders interessante Objekte, die beinahe lückenlos die Entwicklung der Blasinstrumente seit dem 17. Jahrhundert dokumentieren, werden bald in einem eigens dafür geschaffenen Raum zu sehen sein. Mittel in Höhe von 130.000 EUR aus dem Förderprojekt ›InvestKultur‹ sind schon dafür bereitgestellt. Der Direktor des Bachhauses, Jörg Hansen, sagt: »So eine Sammlung wieder zusammenzutragen, wäre heute gar nicht mehr möglich.« Günter Hett, der sie nun auf der Grundlage eines Schenkungsvertrages in die Obhut des Museums gibt, hat sich nicht leicht davon getrennt. Aber die Erleichterung überwiegt, sagt er und fügt rückblickend hinzu: »Ich habe gerne mit der Sammlung gelebt. Ich habe – ich weiß nicht, wie viele – zig Musiker Instrumente hier ausprobieren lassen können. Eine ganze Reihe von Orchestern hat sich bei mir Posaunen, Flügelhörner, Trompeten und alte Instrumente ausgeliehen, um entsprechend authentische Musik zu machen, um dort das Instrument einzusetzen, so wie es der Komponist sich gewünscht hat.«
Sammler und Instrumentenbauer Günter Hett
Foto: Bachhaus Eisenach
Informationen: www.bachhaus.de
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Mit Händel durch die Decke
›Alcina‹-Premiere in Bonn (10.11.2024)
Regenschirme, Uniformen, Koffer, viel Bühnennebel und reichlich nackte Haut – Standardzutaten der modernen Opernküche. Aber kein Grund zum Gähnen. Diese ›Alcina‹ in Bonn und nach Ostern 2025 auch am Staatstheater Nürnberg bleibt nicht in Routine stecken. Schon der Grundgedanke überzeugt: Alcinas Zauberinsel ist eine Wellness-Oase in kriegsfernem Gebiet. Wer es von der Vorder- auf die Hauptbühne schafft beziehungsweise die rußgeschwärzte Mauer dazwischen beiseite schieben kann, dem öffnet sich eine Welt im Art-déco-Schick. Sex ist hier so etwas wie die Landeswährung. Gestrandete finden bequeme Sofas und einen vollen Kühlschrank vor. Sturm und Regen bleiben draußen. Doch das Flüchtlingselend hängt noch in den Kleidern. Ricciardo/Bradamante und sein/ihr Vertrauter Melisso können es schlecht verbergen. Der Bassist Pavel Kudinov und Mezzo Anna Alàs i Jové agieren in rollengerechter Zurückhaltung, fast ein wenig hölzern, doch mit großer stimmlicher Geschmeidigkeit. Ihnen gleich tut es Nicole Wacker, die hier als Oberto scheinbar fröhlich den Pagendienst verrichtet. In Wahrheit trauert das Kind um seinen Vater, den Alcina in ein Tier verwandelt hat, wie sie es mit jedem macht, den sie bestrafen will oder dessen sie einfach überdrüssig ist. Liebhaber finden sich schnell als Bettvorleger wieder. Allein Ruggiero hat dieses Schicksal nicht zu fürchten. Alcina nämlich wird übermannt von einer neuen Erfahrung, wahrer Liebe, und verliert die Zaubermacht.
Marie Heeschen in der Titelrolle zieht alle Register der Verführungskunst, ohne sich zu verrenken. Nichts kippt ins Schräge, so knapp es auch die Grenze vokaler und darstellerischer Selbstgefährdung streift. Durchaus gewagte Verzierungen verleihen dem vielschichtigen Charakterbild Züge von Überspanntheit und Verletzlichkeit zugleich. Eher resolut fordernde Begierde verkörpert die Schwester Morgana, wenn man Regisseur Jens-Daniel Herzog folgt, und Gloria Rehm unterstreicht diese Sicht mit ihrem in der Höhe scharf timbrierten Sopran. Obwohl es sie bei Ricciardo auf den ersten Blick erwischt hat wie noch nie, bleibt sie dem Ex-und-hopp-Denken verhaftet – und wird es heftig bereuen. Ihr Verlobter Oronte muss es aushalten und versucht eine Intrige, indem er Ruggiero die Augen öffnet, ohne selbst die Lage zu durchschauen. Dass es sich bei Ricciardo um die als Mann verkleidete Bradamante handelt, Ruggieros rechtmäßige Gefährtin, weiß einstweilen nur Melisso.
Als Oronte hält Tenor Stefan Sbonnik die Verstörtheit und Ranküne der Figur in der Schwebe, stimmsicher mit nur zum Ende hin leicht ermattender Präsenz. In Folgeaufführungen wird sich der in der Rolle schon mehrfach bewährte Juan Sancho hören lassen. Vielleicht wird auch Countertenor Ray Chenez als Ruggiero-Einspringer irgendwann zum Zuge kommen. Man hatte ihn eigens aus Wien eingeflogen, auf die allerletzte Minute, um die Premiere zu retten. Ein Raunen ging durch den Saal, als sein Name fiel. Aber Charlotte Quadt, die am Morgen noch unpässlich gewesen war, rappelte sich zur Hochform auf und brachte ihren Ruggiero, ganz Mann vom Brusttoupet bis zum Schniepel, heldenhaft ins Ziel. Ein Gutteil des Schlussjubels ging auf ihr Konto. Auch Bühnenbild und Kostüme (Mathis Neidhardt, Sibylle Gädeke), Chor (Einstudierung: André Kellinghaus) und Nebendarsteller verdienten jedes Dezibel an Beifall, nicht zuletzt das Chippendales-like agierende Ballett für seinen Auftritt als Spähtrupp in Erdmännchenmanier (Choreographie: Ramses Sigl).
Einen ihrer Höhepunkte hat die trotz ambitioniert ironisch gefärbter Übertitel (Georg Holzer) weder in Ulk noch Tiefsinn sich erschöpfende Nacherzählung des Ariost’schen Epos vor moderner Zwischenkriegskulisse, wenn sie Ruggieros und Bradamantes Lebensreigen im Schnelldurchlauf vorüberziehen lässt. Das um eine farbige Continuo-Fraktion erweiterte Orchester mitsamt dem schon von Händel selbst vorgesehenen Sonderzubehör trägt, straff geführt, solche Schlüsselmomente mit. Nicht gar so schön wie Morganas Arie ›Ama, sospira‹ mit Solovioline gerieten das leicht penetrante Cellosolo in ›Credete al mio dolore‹ und das kieksende Parforcespiel der Hörner im 3. Akt. Dass es bei den Blockflöten keine Premierenpatzer geben würde, dafür stand Dorothee Oberlinger persönlich ein; auch vereinzelt bei Koloraturen zwischen Graben und Bühne aufkommende Laufzeitdifferenzen hatte sie rasch wieder im Griff. Das Tempo blieb im Fluss, die Gesamtwirkung bezwingend.
Oberlingers Ruf als Flötistin mag außerhalb der Alte-Musik-Szene größer sein als der, den sie sich als Dirigentin erarbeitet hat. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit. Mit dem Bonner Orchester jedenfalls durchstößt sie jene gläserne Decke, die nicht nur für Barockspezialistinnen – Ausnahmen wie Emmanuelle Haïm einmal beiseite – im ›normalen‹ Opernbetrieb noch immer existiert. Ein Weniges fehlte vielleicht an Rasanz und Perfektion gegenüber Produktionen mit ihrem eigenen Ensemble 1700, sei es in Potsdam, Bayreuth oder kürzlich erst mit Händels ›Trionfo‹-Oratorium in Knechtsteden. Ein Triumph war es allemal.
jj
Ritterepos im Zeitkostüm der Zwanziger: Stefan Sbonnik (Oronte), Gloria Rehm (Morgana), Chor des Theaters Bonn, Marie Heeschen (Alcina) und Charlotte Quadt (Ruggiero)
Foto: Theater Bonn/B. Stöß
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Fest der Erinnerung
Bachwoche Ansbach 2023
Ernst, beinah grimmig blickt der Mann mit der gepuderten Perücke drein, als sei er mit diesem Gesichtsausdruck schon auf die Welt gekommen. Die inszenierte Würde auf dem berühmten Bild des Malers Elias Gottlob Haussmann prägt wohl auf alle Zeit unsere Vorstellung von Johann Sebastian Bach. Dabei war er zumindest in der Jugend ein durchaus unangepasster Charakter, bisweilen aufbrausend ungestüm, auf jeden Fall aber ein Mensch voller Phantasie. Genau darum ging es auch bei der Ansbacher Bachwoche 2023, die einen Programmschwerpunkt auf die Gattung der Toccata legte, die wie kaum eine andere für das freie, phantasievolle und experimentelle Musizieren steht – Ausdruck und Inbegriff einer mit virtuosen Elementen angereicherten Form, die dazu herausfordert, ästhetische Grenzen auch einmal zu sprengen, sinnlich und eruptiv. Bach hatte sie selbst gehört bei seinem Lübeck-Aufenthalt, der ihn zu Dietrich Buxtehude führte, und war offenbar so begeistert von den neu gefundenen Ausdrucksmöglichkeiten, dass er den ihm gewährten Diensturlaub für die zu Fuß unternommene Reise um mehrere Wochen überzog.
In der mittelfränkischen Residenzstadt Ansbach trafen zwei derzeit äußerst angesagte ›junge Wilde‹ aufeinander, deren Sichtweisen und Interpretationsansätze jedoch unterschiedlicher kaum sein könnten. Claire Huangci legte in der vollbesetzten Orangerie des Hofgartens das pianistische Potenzial der Toccaten BWV 910–916 offen, wie sie es bereits 2021 in ihrer Einspielung für das Label Berlin Classics getan hatte. Fünf der sieben Stücke stellte sie ausgewählten, zu Suiten gebündelten Sonaten Domenico Scarlattis gegenüber. Die junge amerikanische Pianistin spielte auf dem Steinway mit furiosem Zugriff, mal tiefgründig, mal atemlos, immer mit einem gehörigen Maß an jugendlichem Feuer.
Jean Rondeau präsentierte sich als Solist im Konzert des Freiburger Barockorchesters mit großer Gelassenheit, aber auch viel Gespür für die emotionale Tiefe Bach’scher Cembaloklänge. Bei ihm scheint das Leben der Töne da erst zu beginnen, wo es bei anderen schon aufhört, so viel Spannkraft legt er in sie hinein und verleiht ihnen eine Art magische Präsenz über das Verklingen hinaus. Mit beinahe schmerzverzerrtem Blick lauscht er ihnen nach, als wolle er sie nicht ins Nichts entlassen. Das wurde deutlich im d-Moll-Konzert für Cembalo und Streicher (BWV 1052) und noch mehr im sogenannten Italienischen Konzert für Cembalo allein, das im Adagio traumverlorene Sphären berührte, ehe sich Rondeau im Presto wieder zurück auf die Erde beamte. Wie verliebt in die opulent wiederhergestellte Ansbacher Wiegleb-Orgel der ehrwürdigen Gumbertus-Kirche wirkte er in einem Abendkonzert mit den Goldberg-Variationen, und wieder war es eine hochartifizielle Meditation, nur mit anderen klanglichen Mitteln. Man kann trefflich darüber streiten, ob sich die arkan auratische Wirkung dieses Variationswerkes auch auf einer großen Orgel entfaltet. Bei Rondeau tat sie es jedenfalls.
Auch zwei Vermittlungsformate standen der Bachwoche Ansbach gut zu Gesicht und wurden dankbar angenommen. Zum einen die sogenannten Bach-Sprechstunden, in denen hochkarätige Experten wie Peter Wollny und Meinrad Walter aktuelle Forschungsergebnisse vorstellten oder auch das neue Bach-Werke-Verzeichnis (BWV3) erläuterten, zum anderen waren es die Landpartien in die geschichtsträchtige Umgebung der ehemaligen markgräflichen Residenzstadt. In der Stadtpfarrkirche St. Georg im fünfzig Kilometer entfernten Ellingen gastierte Jörg Halubek, wie immer souverän und spielfreudig, mit Mitgliedern seines famosen Ensembles Il Gusto Barocco. Ihr Bach-Programm war ein besonderes insofern, als das Brandenburgische Konzert Nr. 5 und das A-Dur-Cembalokonzert jeweils satzweise umrankt wurden von Claire Geneweins duftig inszenierter Flötenpartita BWV 1013.
Als Glücksfall erwies sich auch die Übernahme eines Konzerts aus dem Projekt ›Vision.Bach‹ der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Hans- Christoph Rademann gelang mit seiner Gaechinger Cantorey eine tiefschürfende und sinnlich inspirierende Interpretation dreier Werke, die auf den Monat genau vor 300 Jahren im Rahmen des ersten Kantatenjahrgangs in Leipzig erklungen waren. Das Münster Heilsbronn war ein geradezu mystischer Ort für Miriam Feuersingers berührendes Bekenntnis ›Mein Herze schwimmt im Blut‹ (BWV 199.3); großartig gelang ihr der affektive Prozess im emotionalen Fortschreiten von der Arie ›Tief gebückt und voller Reue‹ bis zum heiter hoffnungsfrohen ›Wie freudig ist mein Herz‹! Wunderbare Farben fand Daniel Johannsen in den Tenor-Arien der Kantaten ›Herr, gehe nicht ins Gericht‹ (BWV 105) und ›Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei‹ (BWV 179), eindringlich genug, um den Leipziger Ratsherren und ebenso geschäftssüchtigen wie -tüchtigen Kaufleuten damals die Leviten zu lesen. So war die Bachwoche Ansbach 2023 auch ein großes Fest der Erinnerung an den Leipziger Dienstantritt Bachs vor genau 300 Jahren.
Martin Hoffmann/Red.
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Let’s talk
Online-Roundtable: Das Cembalo im Musikschulunterricht
Im Musikbetrieb und auch im Musikunterricht spielt das Cembalo keine dem Klavier vergleichbare Rolle. Klavierspielende Kinder kennt jeder, am Cembalo stellt man sich irgendwie immer Erwachsene vor. Manche sind erst spät vom Klavier umgestiegen. Aber es gibt auch die, die früh anfangen. Sie sind nur wenig sichtbar. An 933 VdM-Musikschulen in Deutschland lernten im Jahr 2019 gerade einmal 150 Kinder und Jugendliche Cembalo. Da mögen sich Cembalolehrkräfte schon einmal wie Orchideen vorkommen und den Eindruck haben, es interessiere sich niemand so recht für das, was sie tun.
Was hilft? Vernetzung. Ein Anstoß dazu kam im Herbst 2021 aus Österreich, und zwar vom St. Pöltener ›Musik- und Kunstschulen-Management Niederösterreich‹, das Fortbildungen speziell für Lehrkräfte mit seltenen Fächern anbietet. Um den Ideenaustausch speziell im Bereich der Alten Musik zu fördern, wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Alte Musik der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien und dessen stellvertretendem Leiter Johannes Weiss ein Online-Roundtable ›Alte Musik für Kinder und Jugendliche – Historische Tasteninstrumente‹ angesetzt.
Zehn Teilnehmer und Teilnehmerinnen, davon sieben Cembalo-Lehrkräfte, hatten sich um den virtuellen Tisch versammelt. Das scheint wenig, ist es aber nicht. Im Bundesland Niederösterreich verhält es sich ähnlich wie in Deutschland: 126 Musikschulen gibt es, aber nur fünf Cembalolehrkräfte mit 16 Schülern und Schülerinnen.
Unter Weiss’ Leitung nahm das Gespräch schnell Fahrt auf. Nicht nur Ältere, auch Kinder mögen das Cembalo – darüber bestand Einigkeit. Ihnen gefällt der Klang, sie mögen die im Vergleich zum Klavier kleineren Dimensionen und finden die Mechanik spannend, die man sehen und anfassen kann. Ein weiteres positives Fazit: Dort, wo es Cembalounterricht gibt, kann über die Ausstattung nicht geklagt werden. Ein bis drei Instrumente von mindestens anständiger Qualität hatten alle Anwesenden in ihrer jeweiligen Schule zur Verfügung.
Musikschülerinnen und -schüler sollen nicht nur im Unterricht spielen, sondern auch zu Hause. Doch nur wenige besitzen ein eigenes Instrument. Darum wird vorwiegend auf dem Klavier oder Keyboard geübt – nicht ideal, aber in Ordnung, so die überwiegende Meinung. Denn die Anschaffung eines Cembalos kann mancherlei Probleme nach sich ziehen. Gute Cembali sind teuer. Auf billigen Instrumenten zu spielen, wie sie im Internet angeboten werden – gebrauchte Spinette nicht selten schon für wenige hundert Euro –, mag angehen. Aber macht es Freude? Spätestens, wenn ein solches Instrument gestimmt werden muss oder ein Kiel bricht, ist es mit dem Spaß vorbei. Zum Nachstimmen müssten die Lehrkräfte Hausbesuche machen, und Kiele schnitzen lernen dauert seine Zeit. Ein Tipp: Bei Interesse an gebrauchten Instrumenten kann es nicht schaden, sich auch bei Kleinanzeigen in Frankreich, Italien und den Niederlanden umzuschauen.
Um das Cembalo dauerhaft interessant zu machen, gehört nach Ansicht aller Anwesenden das Spielen im Ensemble unbedingt dazu. Eine Cembalolehrkraft, die auch als Mitglied eines Ensembles in Erscheinung tritt oder für Korrepetitionstätigkeit angefragt und honoriert wird, kann als Berufsvorbild wichtig sein. Überlegt wurde in der Runde auch, warum Barockposaune oder -geige nicht ebenfalls Teil des Musikschulangebots sind. Selbst dort, wo es kompetente Kräfte gibt, sind diese oft nur für das moderne Pendant angestellt.
Generalbassspiel, Improvisation mit Anfängern und Fortgeschrittenen, Stimm-Apps – es gab viele weitere Themen an diesem Abend, der gut und gern noch ein paar Stunden länger hätte dauern können. Was denn ihre größten Wünsche wären, fragte Johannes Weiss zum Schluss in die Runde. Auch Cembalo-Lehrende dürfen träumen: ein Cembalo in der Musikschule in einem Extra-Raum zum Üben, ein Unterrichtsraum mit zwei Instrumenten, um zusammen zu spielen und zu improvisieren, ein gut funktionierender Austausch im Kollegium ...
Deutlich wurde, wie nützlich es ist und einfach auch schön und unterstützend, von Kollegen und Kolleginnen zu hören, die man im Alltag am Arbeitsplatz nicht trifft. Ein starkes Pro also für weitere Online-Zusammenkünfte innerhalb wie außerhalb der eigenen Berufsgruppe und deshalb eine gute Initiative. Die Fortsetzung des Formats erscheint möglich und wünschenswert, konkrete Planungen gibt es aber noch nicht.
Christine Lanz
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La Bartoli in ihrem Element
Glucks ›Iphigénie en Tauride‹ bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2015
Als Cecilia Bartoli für ihre Iphigenie an diesem kalten Pfingstnachmittag mit tosendem Applaus überschüttet wurde, war klar, dass ein Star das Publikum für sich gewonnen hatte. Und Diego Fasolis konnte und wollte ihn, nach einem äußerst lebendigen und mitfühlenden Dirigat, mit einer nicht alltäglichen Geste auch benennen, indem er dem Publikum die Partitur entgegenstreckte, als wollte er sagen: ›Seht, es ist Gluck!‹ Dass die Musik des Oberpfälzer Förstersohns unter die Haut und dem Publikum wahrlich zu Herzen geht, berichtete bereits Friedrich Schiller. Am Hl. Abend des Jahres 1800 schrieb er seinem Weimarer Seelenverwandten Johann Wolfgang von Goethe: »Hier erwartet Sie die Iphigenia (von Gluck), von der ich alles Gute hoffe. Ich war bei der gestrigen Probe, es ist nur noch wenig zu thun. Die Musik ist so himmlisch, daß sie mich selbst in der Probe unter den Possen und Zerstreuungen der Sänger und Sängerinnen zu Thränen gerührt hat.«
Iphigenie (Cecilia Bartoli) und Orest (Christopher Maltman)
Foto: Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus
Doch wer ist diese Iphigenie? Eine Gerettete und eine Gefangene zugleich. Von Diana zwar nach Tauris in Sicherheit gebracht, aber von König Thoas dazu verdammt, als Priesterin die Götter durch Menschenopfer zu besänftigen. Es ist ihr vermeintliches Schicksal und ihre Pflicht, jeden Fremden, der an die Gestade der Taurer – die heutige Krim – gespült wird, den Göttern auf dem Altar zu opfern. Das gilt natürlich auch für die beiden jungen Griechen, die auf Apolls Geheiß auf Tauris landen. Pylades ist der eine der beiden Freunde, der andere Orest, Iphigenies Bruder. Am Ende ist Thoas tot, und die Griechen sind befreit.
Kein bisschen Erotik weit und breit, nur Hoffnung, Angst, Verzweiflung, Seelenqual. Glucks Musik liefert die entsprechenden Modelle, und die Sänger gestalten sie mit Tiefe und leidenschaftlichen Affekten aus. Christopher Maltman als kerniger Orest und Topi Lehtipuu als warmherziger Pylades treffen den spezifisch Gluck’schen Ton genau, während Michael Kraus mit etwas arg polternder Allüre einen eher einfältigen als perfiden Thoas gibt. Cecilia Bartoli indes zeichnet nicht nur ein differenziertes Psychogramm der Iphigenie, sondern wird eins mit der Figur und trifft mit der Arie ›Ô malheureuse Iphigénie‹ voll ins Herz. Da ist sie mit glutvoller Expression in ihrem Element und von kalt-marmorner Klassizität so weit entfernt wie die Krim von Mykene. I Barocchisti unter Diego Fasolis geben das nötige Feuer, schleudern die Blitze in der Tempesta der Ouvertüre nur so heraus, rhythmisch stets aufmerksam, bisweilen aber mit Intonationsschwächen.
Auch wenn am Ende die golden prallbusige Diana als dea ex machina ziemlich ›spacig‹ daherkommt, geht die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier lange gut, auch deshalb, weil sie auf aktualisierende geographische Zuordnungen verzichtet. So ist Tauris bei Leiser/Caurier also nicht unbedingt das Krisengebiet von heute. Gluck ist da in jeder Hinsicht eindeutiger, wenn er die menschenverachtende Gewalt der Barbaren mit musikalischen Mitteln der lärmenden Janitscharenmusik der Osmanen zuordnet. Gut auch, dass Thomas Betzwieser im informativen Programmheft aufräumt mit dem lange gepflegten Klassizismus-Klischee und vor allem das 19. Jahrhundert als jene Zeit benennt, in der man Gluck zum Haupt einer Opernreform stilisierte, die heute primär als eine poetologisch-librettistische Innovation verstanden wird.
Wenn Cecilia Bartoli als Motto der Pfingstfestspiele 2015 ›So ruf ich alle Götter‹ ausgab, bleibt festzustellen: Sie wurde erhört. Denn auch das Arienkonzert mit Philippe Jaroussky und Nathalie Stutzmann war Musik wie von einem anderen Stern. Selbst die das Ensemble Orfeo 55 dirigierende Altistin schien dem Zauber des Counter-Kollegen zu erliegen. Ihre gemeinsame Zugabe, das Duett Cornelia/Sesto aus Händels ›Giulio Cesare‹, geriet zum musikalischen Ereignis.
In diesem Jahr steht Bartolis Pfingstfestival unter dem Motto ›Romeo und Julia‹, und besonders gespannt sein kann man darauf, wie Nicola Antonio Zingarelli diesen Stoff im Jahr 1796 veropert hat.
Martin Hoffmann
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Bach-Besuch in der Pfalz
Der Kirchheimer Konzertwinter im 25. Jahr seines Bestehens
Johann Sebastian Bach hat eine Kaffeekantate geschrieben, aber keine Weinkantate. Wäre er auf seinen Reisen gen Westen nicht nur bis Kassel gekommen, sondern auch in die Rheinpfalz, sagen wir: in die Winzergemeinde Kirchheim nahe Grünstadt, sähe das vermutlich anders aus. Hier, am Rande der ›Metropolregion Rhein-Neckar‹, in der Nähe der einstigen Residenzen Heidelberg und Mannheim und der Industriestadt Ludwigshafen, gehen Wein und Musik seit einem Vierteljahrhundert eine glückliche Symbiose ein. Zu verdanken ist das der vor Ort kulturell vielfältig engagierten Familie Wörner, deren Sohn Dominik Anfang der 1990er Jahre die Orgel in der Andreas-Kirche schlug und den akustisch vorzüglichen Raum auch für größer besetzte Konzerte nutzen wollte. Inzwischen ist der ›Kirchheimer Konzertwinter‹ Institution, die Saison 2014/2015 bietet sechs Programme (jeweils zweimal, am Samstagabend und Sonntagnachmittag) mit handverlesenen Interpreten. Denn Wörner hat sich nicht nur auf der Orgel habilitiert, er zählt heute zu den weltweit gefragten Basssolisten insbesondere im Bereich der historischen Aufführungspraxis, und ihm gelingt es, immer wieder Stars der Szene, mit denen er andernorts zusammenarbeitet, in seine Heimat zu holen, Masaaki Suzuki etwa war im Januar 2012 mit seinem Bach Collegium Japan und dem Weihnachts-Oratorium zu Gast, heuer hat er die Spielzeit gemeinsam mit seinem Sohn Masato am Cembalo und Werken von Johann Sebastian und Wilhelm Friedemann Bach eröffnet, unter dem doppelt sinnreichen Konzertmotto ›Vater und Sohn‹. Wörners Basskollege Peter Kooij stellte im Januar 2011 mit seinem Vokalsolistenensemble Sette Voci die Italienischen Madrigale von Schütz in Kirchheim nicht nur im Konzert vor, sondern nahm sie dort auch für CD auf. Ein Jahr später führte der St. Galler Organist und Dirigent Rudolf Lutz mit Hana Blažíková, Elvira Bill, Georg Poplutz und Dominik Wörner in den Vokalpartien sowie dem ebenso hochkarätig besetzten instrumentalen ›Kirchheimer BachConsort‹ Kantaten zur Epiphanias-Zeit auf – und anschließend, beim ›Wein-Crescendo‹ in geselliger Runde, so erzählt man sich, wurde dem Dirigenten das Fehlen einer einschlägigen Bach’schen Komposition über den edlen Rebensaft besonders bewusst. Nun ist Lutz nicht nur ein ebenso versierter wie humorvoller musikalischer Entertainer, als erfahrener Dozent für historische Improvisation komponiert er auch gerne einmal im Stile Bachs. Und so stand heuer am zweiten Januarwochenende 2015 die Uraufführung der Weinkantate ›PaffWV 3‹ auf dem Programm, ein Auftragswerk der Ortsgemeinde Kirchheim an Lutz, zu dem der emeritierte St. Galler Pfarrer Karl Graf das Libretto beigesteuert hat. Demzufolge reist Bach nun tatsächlich nach Kirchheim, um an der Vermählung seines Schülers Johann Christian Kittel mit der örtlichen Weingräfin teilzunehmen (wo doch die Musikwelt bislang annahm, Kittel sei über Langensalza nach Erfurt gegangen). Als Geschenk überreicht Bach eine Hochzeitsstück ...
Lutz siedelt seine Weinkantate im Jahr 1747 an, in dem die Andreaskirche ihr heutiges Aussehen erhielt. Und er wartet auch sonst mit zahlreichen Anspielungen auf Bach und Kirchheim auf. Nach ›Bach 1747‹ klingt diese Musik durchaus: ab und zu etwas grüblerisch-kontrapunktisch, insgesamt aber eher galant-beschwingt; in einer Solo-Arie ist sogar ein obligates Chalumeau zu hören, das man bislang im Werk des Thomaskantors vergeblich suchte. Die eingestreuten Orgel-Stücke spielt Bach alias Wörner selbst, der sich sonst als Bass in den Gesang des Kirchheimer VokalConsorts einbringt. Selbstverständlich werden aber auch alle anderen sieben Sängerinnen und Sängerinnen mit Solopartien bedacht – und alle erweisen sie sich mit ihren kultiviert-kräftigen Stimmen als treffliche Interpreten. Das Uraufführungspublikum, das sich unter der charmanten Anleitung von Lutz mit Choralgesang in die Weinkantate eingebracht hatte, war vom neuen Stück im alten Ton recht angetan, das seine augenzwinkernde Wirkung vielleicht gerade dadurch entfaltete, dass es als fröhlicher Kehraus eines Bach-Programms fungierte, das geistlich-ernst begonnen hatte. Denn zunächst hatten VocalConsort und BachConsort die erste Kirchenkantate musiziert, die Bach 1723 in Leipzig als frischgebackener Thomaskantor aufführte – ›Die Elenden sollen essen‹, BWV 75. Das klang stark in den Chören mit den acht Vokalstimmen, die von dem dahinter platzierten Instrumentalstimmen ideal getragen wurden, und rhetorisch geschärft in den Rezitativen und Arien. Zwischen dieser Kantorenmusik und der Weinkantate vermittelte als komisches Intermezzo Bachs operettenhafte Kaffeekantate, in der die Sopranistin Sarah Wegener als koffeinsüchtiges und männerverrücktes Liesgen den Vater Schlendrian (Dominik Wörner) herrlich ausspielte und auch den ins Schlussterzett mit einstimmenden Erzähler (Mirko Ludwig in der Tenorpartie) nicht unbeeindruckt ließ.
Nicht jedes Konzert der prinzipiell bei freiem Eintritt auf Spendenbasis realisierten Kirchheimer Reihe kann so spektakulär und groß besetzt sein wie dieses. Nach italienischen Liebesliedern des Mittelalters mit den Sopranistinnen Hana Blažíková und Barbara Sojková, die sich beim Termin im Februar selbst auf gotischen Harfen begleiten, schloss der Konzertwinter Ende April mit Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch. Auf das Programm der folgenden Jubiläums-Spielzeit darf man gespannt sein.
Information: www.konzertwinter.de
Drei Fragen an Dominik Wörner,
den künstlerischen Leiter des Kirchheimer Konzertwinters
›Kirchheimer Konzertwinter‹, das bedeutet heute: Star-Interpreten vornehmlich der Alten Musik in einer 2000-Seelen-Gemeinde. War das von Anfang so geplant?
Nein, wir haben 1990 in sehr bescheidenen Verhältnissen mit den Konzerten begonnen, als im denkmalgeschützten barocken Orgelgehäuse noch ein pneumatisches Instrument von Walcker stand. Glücklicherweise konnten wir die Orgel 1993 wieder in den barocken Zustand zurückführen. Man muss wissen, dass die ursprünglich gotische Kirche 1747 erweitert wurde. Da hat sie nicht nur den Zwiebelturm bekommen, das heutige Wahrzeichen Kirchheims, sondern auch eine wunderbare Orgel, vermutlich aus der Werkstatt von Johann Michael Hartung. Nach der Rekonstruktion gelang es uns, hervorragende Organisten einzuladen. 1996 haben wir dann einen Verein gegründet, um finanziell und in der Programmierung von der Kirchengemeinde unabhängig zu sein. Es gab zunächst nur die Orgel-Solokonzerte, dann auch mal Kammermusik. Mit der Zeit haben wir uns gesteigert bis hin zu oratorischen Werken und wurden international, mit Gästen aus ganz Europa, Japan, Australien, den USA.
Die Reihe finanziert sich aus den freiwilligen Spenden der Konzertbesucher. Wie tragfähig ist dieses System?
Wir möchten, dass unsere Konzerte wirklich allen offenstehen, deshalb der freie Eintritt. Natürlich muss man die Sache gegenfinanzieren und durch den Beitrag der Vereinsmitglieder und Sponsorengelder absichern. In unserer Werbebroschüre verkaufen wir Annoncen; zusätzlich unterstützen uns die Ortsgemeinde, das Land, mitunter Stiftungen, die wir gezielt angehen, auch die Industrie in der nahen und ferneren Umgebung. So ist es eine Mischkalkulation. Wir haben das bis heute aufrechterhalten mit zwei Ausnahmen, nämlich Aufführungen des Weihnachts-Oratoriums mit Masaaki Suzuki und seinem Bach Collegium Japan sowie Peter Kooij und seinem Ensemble Sette Voci: die haben wir als Benefiz-Konzerte angeboten und damit Spenden für vom Krieg traumatisierte Kinder in Kroatien und für eine medizinische Einrichtung in Kalkutta gesammelt.
Sie haben die Kantaten jetzt mit acht Sängern musiziert. Ist das eine aus der finanziellen oder räumlichen Situation geborene Entscheidung oder einfach musikalisches Konzept?
Da kommt verschiedenes zusammen. In der Akustik kommt man mit einer kleinen Besetzung wunderbar zurecht, wir brauchen da keinen 32-Mann-Chor – und das wäre dann auch eine Platzfrage. Im letzten Jahr haben wir die Bach-Kantaten nur im Quartett gesungen. Für die Weinkantate waren acht Rollen zu vergeben, und da bot es sich an, ein Doppelquartett zu besetzen. Das VokalConsort ist 2008 für eine Aufführung von Rossinis Petite Messe solennelle gegründet worden, das haben wir auch mit acht Stimmen realisiert und im Wesentlichen mit den gleichen Leuten, die wir auch für Bach fragen. Sie kommen vom Consort-Singen, gehen aber mittlerweile alle einer internationalen solistischen Karriere nach. Und das sind genau die Qualitäten, die wir brauchen, ähnlich wie es bei Bach war: solistisch erstklassige, ensemblefähige Stimmen. Das ergibt ein sehr transparentes, kammermusikalisches Musizieren, das wir in dieser Kirche wunderbar darstellen können.
behe
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Überfüllte Insel
Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (10.–26.6.2022)
Welch Überfluss und schwelgend tönender Luxus! Ein Festival-Programm nach dem Stopfkuchen-Prinzip. Merklich war der Ehrgeiz, binnen zwei Wochen die crème de la crème der europäischen Alte-Musik-Ensembles in Potsdam zu versammeln. Das arg strapazierte Motto hieß ›Inseln‹ und erinnerte trotz aller bemühten Metaphorik eindrucksvoll daran, welch ein Abenteuer es einst war, Inseln zu erreichen, sich ihrem Glück oder ihren Gefahren auszuliefern und welche Spuren das in der Musik – der schönsten aller künstlichen und künstlerischen Inseln – hinterlassen hat.
Das Eröffnungskonzert mit Les Arts Florissants und der geschmeidigen wie auch tönende Blitze schleudernden Sopranistin Deborah Cachet unter der Leitung von Paul Agnew brachte mit dem ›Aufbruch nach Kythera‹ gleich auch den Sieg dieser mythischen Insel über alle kommenden. Den französischen Musikern fließt bei Musik von Bourgeois, Lully und Rameau der goût français in den Adern, am schönsten hörbar an den vorletzten Tönen aller Stücke, den gedehnten verschnörkelten Vorhalten, den chromatischen Trillern und dem allmählichen Einsickern des Schlusstons. Im Kontrast dazu wurde echt insulare, fast autochthone, jedenfalls weder italienisch noch französisch dominierte englische Musik hörbar in der gemeinsamen Schauspielmusik zu Shakespeares stürmischer Insel von Locke, Banister und Humphrey sowie aus Purcells ›King Arthur‹. Erst Händel war ja der Importeur früher italianità in London, und es wäre verwunderlich gewesen, wenn Agnew, obwohl Schotte, seinem französischen Ensemble das englische Idiom nicht hätte beibringen können. Ein besonderer Moment war auch, als er sich plötzlich umdrehte und mit immer noch mehr als respektabler Stimme eine baritonale Partie aus ›King Arthur‹ einwarf.
Großartige Idee auch, am ersten Wochenende ein Konzert unter offenem Himmel zu veranstalten, auf dem neu gestalteten Alten Markt! Und was wäre besser geeignet als Arien von Händel mit ihrer unmittelbar ergreifenden Wirkung, ein nach Hunderten zählendes Publikum an einem lauen Sommerabend in den Bann zu ziehen? Darauf hatten es neben Stilgerechtigkeit das Orchester Il Pomo d’Oro unter Francesco Corti und die drei Händel-Primadonnen Sophie Junker, Ann Hallenberg und Margherita Maria Sala mit ihrer euphorisierenden Spiel- und Singweise abgesehen, während die unvermeidliche künstliche Illumination an den Hauswänden der klassizistischen Kulisse entlangwanderte und den Mond daran hinderte, Macht über die Beleuchtung des Platzes zu gewinnen.
Erfreulich auch, im Ovidsaal der Neuen Kammern Christophe Rousset einsam und versunken am zweimanualigen Cembalo lauschen zu können, wie er seiner besonderen, inzwischen schon altmeisterlichen Spielweise in Suiten von Couperin und Rameau durch alle Verzierungen hindurch die Melodielinie und manche Gegenlinie hörbar hielt und zugleich erkennen ließ, dass dieser Musik ursprünglich Tanzrhythmen und -schritte zugrunde lagen, während bei Forqueray das phantastisch Ausschweifende zur Geltung kam und bei Royer dessen Abwehrmaßnahmen gegen das vordringende Fortepiano hörbar wurden: Rolladen und heftige Akkordrepetitionen, aber auch ein nur dem Clavecin mögliches zärtliches Zirpen.
Das Ensemble Los Temperamentos bot aus lateinamerikanischen Codices des 17. und 18. Jahrhunderts instrumental kolorierte Gesänge über das Schicksal der eroberten Völker und die Liebe in Zeiten der Sklaverei, in denen sich indigene Elemente furios mit solchen der Erobererkultur vermischten. Die Beispiele aus Domenico Scarlattis Sonaten und Auszüge aus Purcells ›Fairy-Queen‹ nährten den Verdacht, dass diese beiden Komponisten schon ahnungsvoll auf die Küsten jenseits des Atlantiks blickten. Zwei zur Ausstattung des Raffaelsaales im Orangerieschloss gehörige Feen hatten offenbar die gleiche Ahnung, denn die Skulptur vorn links hält Ausschau mit einer Hand waagerecht vor der Stirn, während die auf der rechten Seite eine Hand ans Ohr hält, um besser zu hören – vielleicht Klänge aus Lateinamerika.
Als erste von vier Opernaufführungen war die Wiederaufnahme eines vor 254 Jahren zuletzt präsentierten Schatzes aus dem Repertoire der preußischen Hofoper zu erleben, einem Lieblingswerk König Friedrichs II., der damit seinen erstaunlich guten Geschmack auch auf dem Gebiet der Opera buffa bewies, welcher er sich nach der Niederlegung des räuberischen Kriegshandwerks allergnädigst wieder zu widmen beliebte. Ein pastoraler Stoff über einen widerrechtlich gefangengehaltenen, dann aber durch ein Wunder der wütenden Natur befreiten Prinzen, der das ABC zivilisierter Liebe erst noch lernen muss. Dieser durchaus aufklärungs- und sozialkritische Ulk Carlo Goldonis wurde von einem gewissen Giuseppe Scarlatti vertont, dessen Stellung zu den anderen Scarlattis bis heute nicht geklärt ist. Über das Konventionelle hinaus verfeinerte Musik war zu hören, mit exquisiten, teils improvisiert ausgeschmückten Entreacte-Musiken, in denen während einzelner Arien verschiedene Orchesterinstrumente sich solistisch virtuos betätigen konnten. Aus dem kleinen Orchestergraben des zierlichen Operngehäuses im Neuen Palais spielte, dirigiert von Flötistin und Intendantin Dorothee Oberlinger, das von ihr gegründete und geleitete Ensemble 1700 auf erlesenen Instrumenten, besonders einfallsreich die Continuogruppe aus Laute, Tafelklavier und Violoncello. Leider konnte Oberlinger nur eine äußerst subjektive Begründung dafür vorbringen, warum sie mit Emmanuel Mouret ausgerechnet einen Filmregisseur für die Inszenierung einer italienischen Barockoper ausgesucht hat – er erinnere sie so sehr an den von ihr so geliebten Woody Allen. Ihm war, dem Aktualisierungsfimmel folgend, nichts Besseres eingefallen, als die fragile ländliche Idylle mit Tieren und Blumen in eine bekanntlich sehr naturnahe sterile moderne Bürowelt zu verlegen, Könige in diktatorische Bürohengste und Schäferinnen in Putzfrauen zu verwandeln, die man sich wieder in die eigentlich gemeinte Sphäre zurückübersetzen musste, weil Text und Kostüme zu diesem Milieu nicht passen wollten und dem von Goldoni hervorgezauberten Spaß Momente unfreiwilliger Komik hinzusetzten. Ein ebenso junges wie in Koloratur-Arien versiertes Gesangsensemble tröstete über die visuelle Einöde hinweg.
Othello, die Geschichte des Generalissimus von Zypern, bot den Hintergrund für subtile und emphatisch vorgetragene spätmittelalterliche Musik aus venezianischen und zypriotischen Quellen. Das vokal-instrumentale Ensemble La Fonte Musica präsentierte ein ganz selten zu hörendes Repertoire, schoss in seinem Bearbeitungswillen jedoch übers Ziel hinaus. Der imposanten Verwirklichung ungemein intrikater Rhythmen, auf die sich die Gruppe glänzend versteht, hätte es keinen Abbruch getan, die hier für zwei Soprane und zwei Tenöre arrangierten Stimmbücher in der tieferen Originaltonhöhe zu erleben – eine Stimme ›sopra alto‹ gab es im 14. und 15. Jahrhundert nicht.
An einem weiteren Abend in der Friedenskirche ging es um das oft besungene Schicksal der Ariadne auf den Inseln Naxos und Kreta. Hier wäre nun ein Lobgesang auf eine Sängerin anzustimmen, die ursprünglich nur als Ersatz für Hana Blažíková verpflichtet worden war: Anna Herbst. Die junge Sopranistin muss eigentlich nicht mehr vorgestellt oder als Entdeckung gepriesen werden, obwohl sie noch am Beginn einer hoffentlich langen Karriere steht. Sie singt mit einem aus körperlich-seelischer Energie gespeisten Temperament und verzichtet auf das heutzutage beliebte Gackern und Gurren mancher berühmten Diva. Wie das Ensemble Les Passions de l’âme weiß, dass man sich den Leidenschaften der Seele nicht restlos hingeben sollte, setzt sie ihre zwanglos fließende Technik nicht allein um der Wirkung willen ein, sondern zur stimmigen Affektdarstellung einer Arie als Kunstwerk. Bereits nach dem ›Lamento d’Arianna‹ von Monteverdi, begleitet allein vom Lautenisten Vincent Flückiger mit improvisierten Ausschmückungen der Basslinie, dämmerte es dem Publikum, dass es einer Sternstunde teilhaftig wurde. Auch das den Tränen der Ariadne gewidmete Concerto grosso von Locatelli ließ die bewegt agierende Ensembleleiterin Meret Lüthi so musizieren, dass das romantische Surplus jeder guten Musik spürbar wurde.
Der Versuch, in der Potsdamer Friedenskirche ein geistliches Konzert mit mittelalterlicher A-cappella-Musik zu veranstalten, musste atmosphärisch scheitern, verursacht durch einen nicht geringen Teil des Publikums, das Popkonzertgebräuche in die Kirche übertragen zu müssen glaubte: Mit Badelatschen, Weingläsern und Smartphones bewaffnet, konnte es durch Abwinken des Dirigenten gerade noch davon abgebracht werden, nach jedem Stück liturgischer Musik zu klatschen, nicht aber davon, fortwährend leuchtende Handy-Kameras hochzurecken. Das Huelgas Ensemble setzte an diesem Abend in den beiden mittleren, nur von Männern vorgetragenen Stücken des Programms positive Akzente, indem es bei dem berühmten Organum Perotins ›Viderunt omnes‹ mit den durch alle Stimmen wandernden hoquetischen Elementen zeigte, dass diese zwischen Seufzer und Schluckauf angesiedelte Technik eine herrliche Möglichkeit war, das glatte Absingen der Quarten und Quinten und nur weniger anderer Zwischenintervalle lebendig zu gestalten. Auch war gut zu hören, wie die gemischt französisch-lateinisch textierte anonyme Motette über den Tenor ›Nigra est‹ davon profitierte, dass sie jenseits der Schablonen rhythmischer Modi gesungen wurde. Zweifelhaft blieb, ob es gut war, die diskantierenden Cantus-Stimmen in den laudes regiae und während der gesamten Messe von Antoine Brumel hohen Frauenstimmen zuzuweisen. Es mag zwar modernen Klangidealen entsprechen, wenn ständig eine weibliche Soprangruppe eine Oktave zu hoch über allem schwebt. Mit mittelalterlicher Praxis und Notation, ihren Tonhöhen und Schlüsseln indes hat es, wie weiter oben bereits festgestellt, wenig zu tun; es war eine aufführungspraktische Entscheidung des 19. Jahrhunderts, alle kirchentonartlichen Gesänge nur noch in Sopran- und Bassschlüsseln zu notieren.
Seltsamerweise konnte das Publikum des nächsten halb sakralen Konzerts, diesmal unter offenem Himmel vor den Terrassen des Orangerieschlosses, mehr Disziplin aufbringen. Es erhielt aber auch keine Chance zu störender Beteiligung, weil der agile Pedro Memelsdorff geschickt wie an einem unsichtbaren Band das musikalische Geschehen auf, vor und neben der Bühne lenkte und zu den einzelnen Stücken bruchlos überleitete. Zelebriert wurde eine Collage aus mehreren Liedmessen und Instrumentalstücken karibischer Musiker zur Zeit der französischen Kolonisierung, bei denen allerdings das rhythmische Element schon französisch domestiziert war; erst gegen Schluss inszenierte Memelsdorff einen Durchbruch karibisch trommelnder Klanggewalten.
Das vorwiegend auswendig und verzückt von der eigenen Musik spielende baskische Barockensemble Euskal präsentierte musikalische Fundstücke, die der Weltumsegler Juan Sebastián Elcano an Bord der in eine kriegerische Kreuzfahrt gezwungenen Flotte des Entdeckers und Eroberers Magellan an malayisch-polynesischen und molukkischen Gestaden gesammelt haben könnte. Mitteleuropäischen Hörern dürften aber auch schon die traditionell baskischen Klänge sehr exotisch vorgekommen sein.
Dorothee Oberlinger konzertierte auch in ihrem eigentlichen Fach, der Blockflöte, und hatte sich dazu eine mit äußerst direkter Tongebung ausgestattete kammermusikalische Abordnung der Streicherformation des südspanischen Orquesta Barroca de Sevilla eingeladen. In Flötensonaten und -konzerten einer ganzen Generation von Komponisten am Golf von Neapel, von denen der spätere preußische Hofmusiker Johann Joachim Quantz direkt lernte, präsentierte Oberlinger ihre volle Virtuosität in prickelnden Girlanden und ausschweifend verzierten Kantilenen. In der Annahme, vieles, was Quantz in seinem ›Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen‹ geschrieben hat, gelte auch für den flauto dolce, wurde das duettierende Spiel beider Instrumente gesucht, einmal herbeigeschummelt für ein Doppelkonzert von Alessandro Scarlatti, ein andermal in einem auch so gemeinten Konzertsatz von Telemann ›alla polacca‹ als Zugabe. Nur hatte zu diesem Zeitpunkt die Blockflöte ihren Ruf, dolce zu sein, wahrscheinlich schon verloren, denn Telemann setzte sie für scharfe und kecke Töne ein; den sanfteren Part hatte Rafael Ruibérriz De Torres an der Traversflöte inne.
Ein Konzert mit Mitgliedern von Al Ayre Español und der Mezzosopranistin Maite Beaumont kombinierte sinnigerweise Triosonaten aus dem Opus 5 von Händel, der darin Stücke aus seinen italienischen Frühwerken ausschlachtete, mit geistlichen Kantaten zweier spanischer Zeitgenossen, die auf ganz andere und in Deutschland weitgehend unbekannt gebliebene Weise von den hegemonialen italienischen Formen und Stilelementen profitierten. Anschauliche Beispiele dafür lieferten die von der Sängerin beglückend empfindsam und kraftvoll vorgetragenen Rezitative und Arien aus Kantaten von Antonio de Literes und José de Torres.
Eine ziemliche Enttäuschung war der Opernabend von Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset mit ›Le Amazzoni nell’isole fortunate‹, einem bei der Uraufführung im Jahr 1679 opulent in Szene gesetzten Dramma per musica von Carlo Pallavicino auf ein abstruses Libretto in gekünstelter Sprache. Mit seinen musikalisierten Dialogen, kurzen Arien und wenigen Ensembles ist das Werk weder Fisch noch Fleisch, weder Komödie noch Tragödie, weder zum Lachen noch zum Weinen. Die sich selten über Konfektionsniveau erhebende Musik hätte einer Inszenierung bedurft, in der den relativ wenigen Momenten echter Affektdarstellung gesanglich und gestisch Raum gegeben wird, statt sie in sinnlosem Aktionismus zu ersticken. Im Verhältnis zum nur mit zwei Violinen und selten eingesetzten Trompeten schmalen Rest war die Continuogruppe mit zwei Cembali, zwei Lauten, Orgel und Violoncello luxuriös besetzt und beinahe unentwegt mit Basso-ostinato-Läufen beschäftigt, während sich die Violinen mit relativ lustlos absolvierten Einwürfen in den Arien begnügten. Die Bühne wurde beherrscht von einem langen Tisch, an dem viel herumgesessen wurde, und einem Vorhang für Videoprojektionen, die man als im schlechten Sinne illustrativ bezeichnen kann. Immerhin kamen Liebhaber von Sopranstimmen auf ihre Kosten.
Wie beim Eröffnungskonzert agierte beim Abschlusskonzert der Kompagnie Ars longa aus Havanna eine singende Dirigentin, Teresa Paz, die aber dazu auch noch zu tanzen und ein Instrument zu spielen weiß. Auch hier bewahrheitete sich der schon bei den Temperamentos aufgekommene Verdacht, dass der Musik Purcells eine besondere Affinität zu außereuropäischen Klängen innewohnt. Der Übergang von der ›Fairy-‹ zur ›Indian Queen‹ brachte es an den Tag. Die postkoloniale Version passte zu moderneren kubanischen Kompositionen für tanzende Chöre mit wildem rituellem Hintergrund. Purcells choreographierte Arien wurden in zugleich sinnlicher und technisch perfekter Art gesungen und gespielt.
Die illuminierten und gut bewirteten Abschlusskonzerte unter spätem offenem Himmel an den Orangerie-Terrassen sind nun schon Potsdamer Tradition und eben auch ›des Volkes wahrer Himmel‹.
Peter Sühring
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in CONCERTO Nr. 302.
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Anschauliches Tagebuch
›Mozart und seine Vorbilder‹ mit Bejun Metha und der Akademie für Alte Musik Berlin in Potsdam (9.2.2013)
Bach und Mozart waren nicht nur Vorbilder, sie hatten auch welche. Das machten zwei Konzerte deutlich, die sich ausdrücklich diesem Phänomen widmeten. Denn beide Größen wurden groß nur dadurch, dass sie auch das Komponierte ihrer Vorgänger und Zeitgenossen ernst nahmen, sammelten und studierten. Nur in Toulouse, Hamburg und Potsdam bekam man das Programm vorab zu hören, dass demnächst eingespielt und dann in mehreren CD-Release-Events präsentiert wird: Bejun Metha, der über alle Kritik erhabene Meta- oder Mega-Counter singt Hasse, Christian Bach, Gluck und den jungen Mozart, dessen italienische Jünglingsarien in letzter Zeit gern als bedeutend entdeckt werden. So bedeutend wie die seiner Vorbilder waren sie allemal, wobei wohl auch die Tatsache nicht ganz unbedeutend ist, dass er noch ein halbes Kind war, als er sie schrieb. Denn man durfte sich schon damals, Anfang der 1770er Jahre, fragen, wo das noch hinführen sollte – heute wissen wir es. Nur haben wir die vielleicht falsche Vorstellung, die Mailänder Arien des 14- bis 16-Jährigen seien quasi Vorahnungen der Giovanni- und der Zauberflöten-Musik gewesen. Aus der Sicht Mozarts waren seine späteren musikgeschichtlich kanonisierten Einfälle vielleicht nur Rückgriffe auf schon als Jüngling erprobte Techniken. Wie dem auch sei: In Potsdam hörte man zuerst die über ihre Vorbilder schon etwas hinauslugenden Mozart-Arien, nach der Pause dann die Vorbilder.
Metha repräsentiert eine Generation von Falsettisten, deren Technik aus einem Surrogat endgültig ein eigenes souveränes Stimmfach gemacht hat, das gleichsam geschlechtslos und kaum noch als männliche hohe Stimme (sopra alto) identifizierbar über fast alle Register von regulären Frauen- und Männerstimmen verfügt. Insofern ist historisch in der weltweiten Gesangskultur ein neues Stadium des Countergesangs erreicht, weil sich die Falsettisten auf das Niveau der früheren Kastraten emporgearbeitet haben. Bravo! Warum man deshalb aber die damals noch geschlechtsgebundenen Rollen aus den Opern gleich gar nicht mehr nennen will, so als wären es eben einfach nur Arien für eine x-beliebige hohe Stimme ohne szenischen und Rollenzusammenhang, bleibt das Geheimnis der Programmheftgestalter, abgesehen vom Verfasser der ausführlicheren Begleittexte (Rashid-S. Pegah), der einen, so man will, darüber aufklärt. Also nicht mehr ›Arie des ...‹ (Farnace, Ascanio, Ezio, Arbace), sondern nur noch: ›Arie aus der Oper xy‹. Hier katapultiert sich der strapazierte Gender-Aspekt selbst ins Nirgendwo.
Was Mozart betrifft, hörte man, so man des Staunens fähig war, auch eine frühe Es-Dur-Sinfonie KV 184 (Salzburg 1773), von der man sagen könnte, dass sie wie die im Köchel-Verzeichnis benachbarte ›kleine‹ g-Moll-Sinfonie ebenfalls eine große Schwester hat, nämlich die Es-Dur-Sinfonie KV 543: auch hier die fast gleiche Besetzung mit Pauken und Trompeten. Zufall? Ganz zu schweigen von Mozarts Thamos-Musik, in der der Komtur schon mächtig ins vergnügliche letzte Abendmahl hineinhämmert … Dass diese Musik keinen Dirigenten braucht, versteht sich heute (wieder) fast schon von alleine – Konzertmeister Bernhard Forck stellte es klar und Metha konnte sich temperamentshalber kleiner Dirigiergesten nicht enthalten.
Peter Sühring
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Le Carnavale de Venise (à Berlin)
Maison Voltaire in der Elisabethkirche (24.5.2013)
Dass man keinen Millionenetat eines stehenden Opernhauses braucht, um eine französische Barockoper zu stemmen, bewies eine frisch gegründete Institution der Freien Szene in Berlin, die es unter dem Namen ›Maison Voltaire‹ unternahm, André Campras Opéra-ballet Le Carnavale de Venise in und für Berlin zu produzieren – in einer Stadt, die auf dem Gebiet der französischen Barockoper geradezu ausgehungert ist. Und man gab noch eine Oper in der Oper (›Orpheus in der Unterwelt‹). Leider kam ein Streichorchesterchen ohne Bläser zum Einsatz, mindestens eine Oboe und ein colla parte laufendes Fagott hätte es ruhig sein dürfen. Es wurde nach dem originalen Libretti gesungen, die projektierten Übersetzungen aber salopp in modischem Starkdeutsch mit Berliner Anspielungen gegeben. Die Schauplätze der Regieanweisungen wurden statt in Venedig in Berlin lokalisiert – statt zum Markusplatz ging’s zum Berliner Hauptbahnhof, statt in den Redoutensaal auf die Uferpromenade zwischen den Treptowers. Man hörte viele junge Sängerinnen und Sänger, von denen die Frauen charaktervoll zu singen und zu gestalten wussten (Isabella: Amelie Müller, Léonore: Diana Ramirez Motta), die Männer eher mäßig. Am schwächsten erschien die Choreographie der tanzenden Chöre, konzeptionell wie in der Ausführung, über die auch einzelne Einlagen tänzerischer Berufstalente nicht hinwegtrösten konnten.
Peter Sühring
Campra à Berlin
Foto: Maison Voltaire
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›Peeping at Pepys‹ im Berliner Ensemble (5.3.2013)
Was Samuel Pepys, dieser naseweise Lebemann, seinem besten Freund, dem Tagebuch, so alles anvertraute und Pest und Feuersbrünste überstand, lässt tief in die teils gesellige, teils eigenbrötlerische Atmosphäre dieser Londoner Epoche blicken. Mr. Pepys war tatenarm und gedankenleichtsinnig, war für jedes ihn von seinen Frondiensten im Flottenamt ablenkende Musik- und Tanzvergnügen zu haben und, was wir nun wissen, er komponierte auch selbst ein bisschen à la Purcell, Locke, Jenkins, Blow und wie sie alle hießen. (Da sage noch einer, die Engländer hätten keine Komponisten gehabt). In einer halbszenischen Einrichtung von Christian Filips spielte die Lautten Compagney in einer selbst schon historischen Formation – wann sah man deren Leiter Wolfgang Katschner zuletzt an der Laute? – klanglich fein austarierte, selig machende altenglische Songs und Ayres zwischen vornehmen und plebejischen Sujets auf den Brettern des weltbedeutenden BE.
Eine gut schauspielernde Sängerin (Susanne Ellen Kirchesch, deren registerreiche Stimme wie geschaffen ist für dieses schillernde Repertoire) und ein mutig (mutwillig?) schlecht singender Schauspieler (Gustav Peter Wöhler als schräger Mr. Pepys) rissen in gut zwei Stunden ein ganzes Panorama gesellschaftlicher Eitelkeiten auf und zeigten ganz ohne aktualisierenden Zeigefinger, wie wenig sich seitdem geändert hat. Wer es im BE erlebte, was sich damals im Tagesablauf zwischen ›to office‹ und ›to bed‹ abspielte, erlebte auch eine Lautten Compagney in fast ursprünglich risikobereiter Frische nach dem Motto ›back to the roots‹. Wiederholungen auch in anderen Städten sind geplant.
Peter Sühring
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Eröffnungskonzert des Festivals Chor@Berlin mit Motetten vor und von Bach (21.2.2013)
Johann Sebastian Bach klingt inmitten seiner Vorläufer und familiären Vorfahren weniger monolithisch, besonders wenn man ihn nicht, wie immer noch verbreitet, im Stile seiner Nachläufer und späterer, meist romantisch aufgeladener Standards singt. Das Eröffnungskonzert des diesjährigen Chor-Festes der Berliner Sektion des Deutschen Chorverbands war zugleich das erste Konzert einer Serie von fünf programmatischen Stationen zu den Menschheitsfragen von Ende, Schuld, Vergänglichkeit, Verlangen und Hoffnung, die das Vocalconsort Berlin bis zum Ende des Jahres hier vortragen will: ein Jubiläumsprogramm zum 10-jährigen Bestehen. Nicht ›nur‹ professionell, sondern schier unglaublich leicht und präzise hat sich dieser Chor fast unmerklich zu einem der besten der Stadt entwickelt, so dass sich frühere begnadete Chorleiter des RIAS-Kammerchores wie Marcus Creed und Daniel Reuss wieder in Berlin einfinden, nicht um jenen, sondern diesen Chor zu leiten.
Von der Generation um Schütz und Schein über die großväterliche (Johann) und väterliche (Johann Michael) Generation vor Sebastian Bach bis hin zu ihm selbst als Endpunkt etablierte sich eine nord- und mitteldeutsche Gesangskultur besonders im Motettenrepertoire, die ebenso schlicht und ergreifend wie klanglich phantastisch ausgereift war, mit deren Hilfe man auch die polyphonen Kolosse der Bach-Motetten noch am besten bewältigen kann: Glanz ohne Druck, aber auch ohne jene spröde Trockenheit, zu der manche Chöre ihre Zuflucht nehmen. Creed ließ die Motetten ›Jesu, meine Freude‹ und ›Komm, Jesu, komm‹ so raffiniert phrasieren, mit Pausen und neu angesetzten Bögen und Figuren, dass ihre Lebendigkeit fast vergessen machte, dass Bach auch im Gesanglichen mehr von der nie atmenden Orgel oder eher einem Instrumentalensemble her gedacht hat als von der menschlichen Stimme. Deren Grenzen wurden hier geachtet und deren Möglichkeiten kamen hier voll zur Geltung. Dieser Chor besteht aus solistisch befähigten Stimmen, die sich aber zurücknehmen können, deren Plastizität sich im Kollektiv ausformt. Das Publikum hörte mit einer für kleinteilige Chorkonzerte erfreulich konzentrierten und schweigenden, auch nicht ständig die Hände rühren müssenden Aufmerksamkeit anderthalb Stunden lang zu. Es war vielleicht durch das Thema (Trauer um das Ende und Zuversicht, dass es auch wieder kein Ende ist), vielleicht auch durch die das Naheliegende dezent aber zwingend realisierende ›Choreographie‹ von Folkert Uhde (Trennen, prozessionsartiges Verbinden und Verschieben der Chorstimmen) wie gebannt davon, was ein gut organisierter und beseelt singender Chor für einen Klangzauber um sich verbreiten kann.
Peter Sühring
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Zeitlos barock und zeitbedingt germanisch
Auftakt einer Berliner Konzertreihe der Lautten Compagney (13.11.2011) und Festkonzert der Sing-Akademie zu Berlin zum 200. Todestag Heinrich von Kleists (21.11.11)
Sehr erfreulich, dass die in Berlin ansässige, reisefreudige Lautten Compagney mit dem ihr geschwisterlich verbundenen Vokalensemble Cappella Angelica trotz ihrer mitteldeutschen Herkunft nun ihre erste Berliner Konzertreihe (›zeitlos! barock!‹) eröffnet und damit zu verstehen gegeben hat, dass sie im Grunde ihres Herzens zu einer Berlinerin geworden ist und es auch bleiben will. Aber das war nicht die einzige Neuerung dieses Abends: Abgesehen von einigen neuen Gesichtern in Chor und Orchester war es für viele auch eine Premiere insofern, als hier zu sehen und zu hören war, was passiert, wenn sich der Gesang vor dem Orchester postiert und – zumindest für die beiden an diesem Abend aufgeführten Komponisten Henry Purcell und Sebastian Bach völlig angemessen – die Instrumentalisten, solange gesungen wird, wirklich aus dem Hintergrund heraus begleiten. Beides, der chorische und solistische Gesang sowie das klar durchschimmernde obligate Accompagnement, gewannen dadurch. Der klanginszenatorische Schachzug Wolfgang Katschners hat sich glänzend bewährt, zumal bei einer gesanglichen Elitetruppe wie der Cappella Angelica, die auch solistische Partien jederzeit aus ihrer Mitte heraus bestreiten kann (wenn man wie der Rezensent der Ansicht ist, dass gut ausgebildete und relativ klangschöne, aber nicht im oratorisch-sinfonischen Sinne voluminöse Stimmen für Bachsche Kantaten völlig angemessen sind). Auch den kaum wirklich Arien zu nennenden ariosen Stücken innerhalb einer frühen Mühlhäuser Bach-Kantate (›Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir‹ BWV 131) zeigte sie sich die Cappella durchaus gewachsen. Es ist eine Kantate, in der Bach mit isometrischen Neigungen den Text des Psalms 130 vertont und raffiniert mit dem Choral ›Herr Jesu Christ, du höchstes Gut tropiert‹. Auch die Weimarer doppelchörige Motette ›Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn‹ (BWV Anhang III 159), deren Niederschrift (und Komposition?) Bach ab dem 15. Takt seinem Schüler Philipp David Kräuter überließ (nicht ohne handschriftliche Revisionen zu hinterlassen) wurde in – gelinde gesagt – zügigem Tempo (das auch das von Bach selbst gewesen sein soll) und in der gebotenen klar und profiliert sprechenden Deklamation geboten, wie es wohl nur ein kleines und aufeinander eingespieltes, sich gegenseitig zuhörendes Ensemble erreichen kann. Eine von Katschner hinzuarrangierte, rein instrumentale Strophe machte sinnigerweise deutlich, wie instrumental die Stimmführung dieser wohl vokal gemeinten Motette in Wirklichkeit ist.
Wie sehr Bach in seinem Element war bei der Komposition seiner Orchestersuite in C-Dur (BWV 1066), bei der er keine Rücksicht zu nehmen brauchte auf die Grenzen der menschlichen Stimme (die von ihm sonst oft genug missachtet wurden), zeigte deren Wiedergabe durch die Lautten Compagney, die in ungewöhnlicher Aufstellung spielte, mit den ersten Geigen im Zentrum, wodurch klanglich einmal mehr betont wurde, wer hier indirekt zum imaginären Tanz auffordert, trotz aller verwobenen Kontrapunktik. Das kam auch Purcells Theatermusik zu ›The Fairy Queen‹ zugute, die man selten so ätherisch vorbeihuschen hörte wie hier. Wie vielfältig die eben nicht zeitlose, heute als ›barock‹ (krumm und rund) bezeichnete Musikkultur des 17. und 18.Jahrhunderts in Europa war, offenbarte auch das eingangs musizierte Verse-Anthem ›My heart is inditing‹ von Henry Purcell, das im Geburtsjahr Bachs entstanden war und feierlich die Inthronisation Jakobs II. besang. Von feierlich im Sinne von schwerfällig-auftrumpfend konnte bei dieser robusten und doch graziösen Wiedergabe keine Rede sein. Die Lautten Compagney hat ihren eigenen Ton gefunden und kann ihn getrost in Serie geben.
Um es in einem kleistischen Stopfkuchen-Satz zu sagen: In einem Gebäude, das grundbuchrechtlich weiterhin der Sing-Akademie zu Berlin gehört, nach dem Zweiten Weltkrieg aber als Theater für russische Soldaten konfisziert, dann in ein Theater mit russophilem Programm umgewandelt, nach der Wende einfach weiter bespielt wurde und – ähnlich wie die Schaubühne an den Ku’damm und das Hebbel ans Ufer verlegt worden sind – vielleicht einmal woandershin verlegt werden könnte, damit die Sing-Akademie in ihr innerlich inzwischen arg verunstaltetes Haus wieder einzöge – in diesem Gebäude, sag ich, das der heutigen, auch sängerisch restituierten Sing-Akademie eine Bühne bot für bühnenmusikalische Musik in Verbindung mit Kleist, einem zu seiner Zeit extrem musikalischem Hobby-Musiker und Gast der ersten, echten, d. h. Zelter'schen Liedertafel, waren an seinem 200. Todestag unerhörte Dinge zu hören, nämlich zunächst moderne Erstaufführungen zweier Exempel rarer Kleist-Vertonungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Wilhelm Tauberts Bühnenmusik für Kammerchor (dieser stand als Kammerchor der heutigen Sing-Akademie vor dem Eisernen Vorhang des Theaters) und Klavier zum 1. Auftritt aus Kleists Drama Die Familie Schroffenstein und Adolph Bernhard Marxens Bühnenmusik zum 14. Auftritt aus Penthesilea für großen gemischten Chor (der Eiserne Vorhang schnellte hoch und gab ihn frei), welche beide schon mit den damaligen Tonmitteln einstimmten in die Kleist'sche Atmosphäre aus Blutrausch und Beschwichtigung, Gewalttat und Sanftmut; desweiteren eine moderne Erstaufführung eines im Jahre 1917 unter Anwesenheit des Kaisers des Deutschen Reiches kläglich bis zur Lächerlichkeit gescheiterten Versuchs, während einer den gerade noch laufenden Krieg fördernden Aufführung von Kleists Hermannschlacht eine von dem späteren Pianisten Wilhelm Kempff komponierte Bühnenmusik zum 14. Auftritt des 5. Akts desselben zu zelebrieren für Männerchor und drei nachgebaute altgermanische Luren, wobei diesmal bühnentechnisch alles klappte, es also nichts zu lachen gab, der damals beabsichtige Ernst samt vaterländischer Begeisterung allerdings auch nicht aufkommen wollte, weswegen diese anachronistische und exterritoriale Komposition und der Klang der nochmals nachgebauten, sich besonders für Fanfaren eignenden und die teutonische Überlegenheit geblasener Polyphonie über das bloß gesungene oder gefidelte romanische Melos verkörpern können sollende Luren zwar bestaunt, aber nicht wirklich genossen werden konnten. Desweiteren zwei Uraufführungen, zunächst eine Collage von Bo Wiget nach Kleists Cäcilien-Legende und Händels Alexanderfest für gemischten Chor, Solo-Sopran, Klarinette, plugged Streichquintett, Pauken und Sprechstimme, während der sich herausstellte, dass sich die Stimme der Sopranistin Andrea Chudak sehr gut für schrille Töne eignet (wie später noch besser für das Gekreisch in der zweiten Uraufführung des Abends, nämlich der ›lustjagd‹ betitelten, von Michael Wertmüller stammenden angemessen bruitistischen Vertonung des Kleist'schen Hassgedichts Germania an ihre Kinder – bei dem jeder heutige Verleger sich fragt, ob das denn in eine Gesamtausgabe Kleists unbedingt aufgenommen werden müsse – gegen den französischen, den wölfischen Feind, den es lustvoll zu erlegen, d. h. totzuschlagen gelte), weniger aber für den Thimotheischen Gesang aus Drydens Alexanderfest in der Übersetzung von Ramler, während die im gattungstechnischen Sinne melodramatisch eingesetzte und auch ihrem Charakter nach melodramatische Sprechstimme von Martin Engler, die mit Auszügen aus Kleists Brief über das menschenlebengefährdende Eselsgeschrei sowie aus dessen das übliche Cäcilien-Mißverständnis einer mächtig orgelnden und mit Instrumenten bewehrt triumphierenden Musikheiligen tradierenden Legende sich einmischte, sehr beredt Zeugnis ablegte von der geradezu diabolischen sprachlichen Musikalität Kleists – nichtsdestoweniger man sich in diesem Gebäude an diesem Abend (ganz unkleistisch) während der turbulenten und ekstatisch inszenierten Darbietung auch nach etwas anderem sehnte: dem stillen inneren unhörbaren Gesang der Cäcilie, der weniger die Gewalt als vielmehr die Macht der Musik über das (neu)heidnische Geschrei verkörpern würde, wovon einem allerdings Beethovens zum Ende dargebotener ›Elegischer Gesang‹ für gemischten Chor und Streichquartett nach einem (und leider – er hatte nicht das letzte Wort! – auch: v o r einem) letztmals gebrüllten ›So! So! So! – Nun ist’s gut!‹ eine bloß, aber immerhin doch: matte Ahnung vermitteln konnte, aber einen auch tröstlich daran gemahnte, dass es nicht auszudenken wäre, was uns widerfahren wäre, hätte Kleist sich nicht nur als Soldat und Dichter, sondern auch als Komponist betätigt.
Peter Sühring
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Genialer Dreh
›Siroe‹ bei den Händel-Festspielen in Göttingen (10.5.2013)
Mit einem ›modernen‹ Siroe die angenähert ›historische‹ Amadigi-Erfolgsproduktion des letzten Jahres möglichst noch zu übertreffen, darin bestand die besondere Herausforderung für das neue Team um den künstlerischen Leiter Laurence Cummings, den geschäftsführenden Intendanten Tobias Wolff und ihren gemeinsamen Berater Wolfgang Sandberger, der in dieser Konstruktion zugleich auch den Vorstand und Aufsichtsrat der Träger-Gesellschaft(en) vertritt. Das Hü und Hott zwischen Regie- und pseudobarockem Ausstattungstheater hat in der Vergangenheit selten funktioniert, diesmal aber gelang es eindrucksvoll. Die Einfälle zünden, nicht nur wenn Bösewicht Medarse (Antonio Giovannini) Benzinkanister liebkost und der Geruch von Schwefelhölzern ins Theater strömt. Ein Hauch von Verismo umweht Laodice (Aleksandra Zamojska) in ihrem Hass auf Siroe (Yosemeh Adjei), einen Ausbund an jugendlicher Lässigkeit mit gelegentlich etwas scharfen Tönen, und Cosroe (Lisandro Abdie), der auch als gebrechlicher Tyrann, äußerlich derangiert, über erstaunliche stimmliche Beweglichkeit gebietet; ihre Stimme gut im Griff hat auch Anna Dennis in der Hosenrolle als Idaspe alias Emira. Das vielschichtige und dennoch einleuchtende Konzept der beiden Verantwortlichen für Regie und Choreographie, Immo Karaman und Fabian Posca, findet im Dreh-Bühnenbild von Timo Dentler eine frappierend logische Entsprechung. Nicht weniger erstaunlich sind die Vorgänge im Untergeschoss des qualmumwölkten Abbruchhauses. Was früher oft nur wie ein schöner Zufall klang, entwickelt sich im Festspielorchester unter Cummings zur Konstante: Intensität und klangliche Geschlossenheit, geschmeidige Tempi, aber auch kontrollierte Ausbrüche von fast bruitistischer Qualität wie beim Übergang in den zweiten Akt. So unspektakulär die Leistungen im Einzelnen, so spektakulär ist das Gesamtergebnis, auch ohne grelle Überzeichnung. Selten werden die im metastasianischen Genogramm dieser dysfunktionalen Upper-class-Familie angelegten Konflikte mehr als nur angedeutet. Eine stumme Hausangestellte hütet ihr Geheimnis und personifiziert die Kühle der gesamten Szenerie: ein stilvoll erzählter Krimi im Downton-Abbey-Milieu mit tea time statt Jubelfinale vor pompöser Staatskulisse.
jj

›Siroe‹ in Göttingen
Foto: Händel-Festspiele/T. da Silva
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Öffentliches Wohlgefallen
86. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft in Wetzlar (20.–25.9.2011)
Es war ein Bachfest ganz im Sinne der Gründungsväter! Nämlich die Bachsche Musik zu popularisieren und die musikalischen bzw. künstlerischen Kräfte der jeweils gastgebenden Stadt und ihrer Umgebung zu aktivieren. Obwohl Johann Sebastian Bach zu keiner Zeit in Wetzlar gewesen ist, besitzt der Ort doch gewichtige Bezüge zum nachmaligen Thomaskantor und vor allem zu seinem Œuvre. Zum einen vermittelt durch Johann Wolfgang Goethe, der 1772 für fünf Monate als angehender Jurist am Reichskammergericht in der damaligen deutschen ›Hauptstadt des Rechts‹ weilte, zum anderen durch die verschiedensten kirchenmusikalischen Aktivitäten der Wetzlaer Organisten, Kantoren und ihrer Chöre im Laufe des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Mit diesem ›Schatz‹ haben die Verantwortlichen für das 86. Bachfest, allen voran Kirchenmusikdirektor Joachim Eichhorn und dessen Mitstreiter Andreas Bomba, trefflich gewuchert. Für sechs Tage stand die Stadt an der Lahn ganz im Banne von ›Bach und Goethe‹, dem Motto, das man den 36 Veranstaltungen gegeben hatte. Auch wenn sich 1772, 22 Jahre nach Bachs Tod, die beiden Großen im Reiche der Musik und der Dichtung selbstverständlich nicht mehr direkt begegnen konnten, lassen sich doch erstaunlich viele geistige Verbindungslinien herstellen. Sie sind vor allem durch Carl Friedrich Zelter, den Goethefreund, Leiter der Berliner Sing-Akademie und Lehrer von Felix Mendelssohn Bartholdy zustande gekommen. Was lag also näher, als das Programm in seinen wesentlichen Punkten darauf zu fokussieren und ihm so eine besondere Note zu verleihen? Im fundierten Programmbuch wurden die Leitlinien hierzu dargelegt und kenntnisreich vertieft.
Dass ein Bachfest zu einem erstaunlich großen Anteil durchaus befriedigend von einheimischen kirchenmusikalischen und generell musikalischen Kräften ausgestaltet werden kann, bewiesen die Stadt Wetzlar und die sie umgebende Region eindrucksvoll: bei den täglichen und erfreulich gut besuchten Veranstaltungen ›Bach am Mittag‹ im Wetzlarer Dom. Hier stellten der seit Februar 2011 amtierende Kirchenmusikdirektor Dietrich Bräutigam, sein Vorgänger Joachim Eichhorn sowie die Organisten Peter Scholl, Jorin Sandau, Andreas Strobelt und Hans-Jürgen Freitag große und kleinere Bach'sche Orgelwerke vor. Durch die kluge Auswahl der Kompositionen kamen die klanglichen Besonderheiten der von der Wetzlarer Industriellenfamilie Leitz gestifteten und1955 eingeweihten Orgel fabelhaft zur Geltung. Ihre erstaunlich differenzierten, facettenreichen Möglichkeiten der Klanggestaltung sowie die fein abgestimmten Register reichen vom zarten Piano bis zum volltönenden, den Raum füllenden Forte. Der Musik waren Liturgie und Lesung beigeordnet. Für sie zeichneten wechselweise die beiden großen christlichen Konfessionen verantwortlich. Denn Wetzlars weithin sichtbarer Dom ist Deutschlands älteste Simultankirche! Seit der Reformation wird sie sowohl von der protestantischen als auch von der katholischen Glaubensrichtung genutzt. Der ökumenische Abschlussgottesdienst am Ende dieses 86. Bachfestes unterstrich diese so erfreuliche Funktion nachdrücklich. Genauso nachdrücklich wurde in seinem Rahmen noch einmal das künstlerische Potential Wetzlars präsentiert, durch die Kantorei Wetzlar und den Chor des Bachfestes, in dem traditionsgemäß sangesfreudige Bachfest-Besucher mitsingen konnten, sowie durch das Wetzlarer Bach-Collegium unter der Gesamtleitung von Dietrich Bräutigam.
Die SchülerInnen der örtlichen Musikschule wiederum präsentierten in einem Konzert ihr zum Teil beachtliches Können, während Wigbert Traxler, Klavier-Lehrkraft an dieser Einrichtung, mit Bachs Goldberg-Variationen solistisch auftrat: ein Parforce-Ritt über die Tasten in derartiger Schnelligkeit, dass die Strukturen verwischten und von Bachs Kunst der Veränderungen kaum etwas übrig blieb. Schade! Denn längst gehören die Debatten um Bach auf dem Cembalo oder auf einem modernen Flügel der Vergangenheit an. Ein Diskurs, der übrigens vor fast genau 100 Jahren, am 24. September 1911, in einer Auseinandersetzung zwischen der Cembalistin Wanda Landowska und dem Pianisten Georg Schumann seinen Ausgang nahm. Doch wenn Bach so wie an diesem Abend auf einem Flügel heruntergedonnert wird, dann wäre vielleicht doch ein registerreiches Cembalo angemessener gewesen.
An einem Tag wurden selbst Wetzlars Straßen durch verschiedene Musikanten zum Klingen gebracht. Die Besucher des Bachfestes quittierten das im wahrsten Sinne des Wortes ›öffentliche‹ Konzert mit sichtbarem Wohlgefallen. Ein Stadtspaziergang auf Goethes (und Charlotte Buffs) Spuren verlieh dem Fest weitere Konturen, hatte doch Goethes Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werthers hier seinen Anfang genommen. Ins Umland dagegen, in die Klosterkirche auf Altenburg mit ihrer historischen und gut erhaltenen Schöler-Orgel, führte eine der beiden Exkursionen. Hier stellte die Organistin Margaret Philipps (London) das kostbare Instrument vor und verblüffte mit seinen erstaunlich breitgefächerten Klangmöglichkeiten. Die Region um Wetzlar war auch anderweitig klingend gegenwärtig, mit dem hervorragenden Marburger Bachchor, Gesangssolisten und dem Instrumentalensemble L’Arpa Festante unter Nicolo Sokoli, einem Konzert mit Werken u. a. von Zelter und Christian Friedrich Carl Fasch, mit dem Main-Barockorchester, das zwar ein klug zusammengestelltes Programm mit Werken u. a. von Johann Philipp Kirnberger, Mendelssohn und C. Ph. E. Bach bot, doch besonders in den sehr grob interpretierten Tutti eine differenzierte Gestaltung und notwendige Balance zwischen den einzelnen Klanggruppen vermissen ließ.
Dem Motto dieses Bachfestes angemessen, begann jeder Tag mit Bach und Goethe, nämlich mit kontrapunktischen Stücken von Bach und einer Lesung entsprechender Goethe-Texte. Immerhin war der Dichter fasziniert von Bachs Fugenkünsten, die Andreas Küppers am Cembalo bzw. dem Lautenklavier, Peter Scholl an der Orgel und Lutz und Martina Kirchhof (Laute, Viola da Gamba) klar und konturenreich präsentierten. Um Bach und Goethe bzw. Zelter und Mendelssohn ging es auch im Haus Friedwart, einem kunst- und architekturhistorisch bemerkenswerten Bau. Als Gesamtkunstwerk zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzipiert, präsentiert er den Übergang vom Neoklassizismus zum Jugendstil. Die wunderschönen Räume dieses denkmalgeschützten Hauses boten einen idealen Rahmen für das Zusammenspiel von Text und Musik, für die Begegnung zwischen Mendelssohn, dem ›Enkel‹, und Goethe, der großväterlichen ›Sonne von Weimar‹.
Zum Abschluss erklang Bachs h-Moll-Messe mit dem Dresdner Kammerchor, einem der derzeitigen Spitzenchöre unseres Landes, und mit hervorragenden Gesangssolisten unter der Gesamtleitung von Hans-Christoph Rademann. Selten wurde dieses Großwerk so bewegend, so suggestiv und klar strukturiert, klanglich homogen und mit hervorragender Textverständlichkeit dargeboten wie hier an diesem Abend!
Ingeborg Allihn
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Bei Schütz zuhaus’ in Bad Köstritz und Weißenfels

Museumsbesuch in neuen Räumen: die Schütz-Sammlung in Weißenfels
Foto: MBM/M. Marx
Den Vater deutscher Musik hat man ihn oft genannt und dabei gerne übersehen, wie italienisch dieses Schütz’sche Erbe ist, das da wohlgeordnet in vielen schön gedruckten Bänden auf uns gekommen ist. Beklagenswert ist freilich der Verlust der Musik zu ›Dafne‹, auch wenn sie vermutlich gar nicht war, was sie in den Augen der Nachwelt hätte sein sollen: die erste deutsche Oper. Wenig übriggeblieben ist auch von anderen Dingen seines Lebens, immerhin aber ein Gebäude, das nun in Weißenfels nach aufwändiger Instandsetzung als Heinrich-Schütz-Haus wiedereröffnet wurde. Den Beweis dafür, am authentischen Ort zu sein, liefern einige echt Schütz’sche Notenschnipsel, die sich bei der Renovierung in einem Mäusenest gefunden haben. Von 1651 an hatte dieses Haus ihm für zwanzig Jahre als Alterswohnsitz gedient, nur ein paar Schritte entfernt vom einstigen Gasthof zum Goldenen Ring, dem Ort seiner Kindheit. Geboren ist er jedoch in Köstritz, und so kommt es, dass auch dort ein Schütz-Haus und -Museum existiert. So blendend Weißenfels nun dasteht, hat auch ein Besuch in Köstritz noch immer seinen Reiz. Die Präsentation der Sammlungen könnte allerdings unterschiedlicher nicht sein. Wo in Köstritz der Nachbau eines Musiziertisches mit kleinen Schemeln steht, daran sich die Museumsleiterin auch mal zum Flötespielen mit Kindern niederlässt, ist es in Weißenfels ein Stehpult mit Flachbildschirmen und Umblätterautomatik. Hier das innovative Audio-Konzept, dort die liebevoll arrangierte Heimeligkeit – beides fügt sich in den Rahmen des Heinrich-Schütz-Musikfests, das länderübergreifend die Schütz-Aktivitäten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in einem musikalisch anspruchsvollen Programm verknüpft und dabei verstärkt auch aktuelle Bezüge herzustellen sucht – in diesem Jahr unter dem Luther-Motto ›Ein feste Burg‹. Eindrucksvoll gelang es in Gera mit ›Prosopoeia‹ von Lucia Ronchetti, die sich mit Schütz’ ›Musikalischen Exequien‹ auseinandergesetzt und daraus eine Art vokal-instrumentales Trauertheater gewonnen hat. Starke zeitgenössische Akzente setzte auch das Calmus Ensemble in einem Dresdner Programm, das sich gleichsam konzentrisch, Gregorianik und Gegenwart verbindend, um Schütz’ Vertonung des 116. Psalms bewegte.
Information: Mitteldeutsche Barockmusik (MBM)
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Feuerfester Ruhm
Philipp Heinrich Erlebach zum 300. Todestag
Man stelle sich vor, von Johann Sebastian Bach wären neben einem halben Brandenburgischen Konzert und nur etwa zwanzig Kantaten kaum mehr als ein paar Dutzend Werke bekannt. Das beschreibt in etwa den Überlieferungsstatus, dem wir uns bei Philipp Heinrich Erlebach gegenübersehen. Zu Lebzeiten wurde der vor 300 Jahren verstorbene thüringische Hofkapellmeister als hochproduktiver, innovativer Komponist ebenso wie als Lehrer geschätzt. Auch nach seinem Tod galt er noch als Autorität in Stilfragen, wie es der Erfurter Organist Johann Heinrich Buttstedt bezeugt, und bis heute ist sein Name in der Musizierpraxis lebendig, obwohl kaum ein Zehntel seines Schaffens überliefert ist. Erst dieser Tage erschien in einer Neuausgabe bei Schott der sechsstimmige Chorsatz ›Wer bin ich, Herr‹, und wer ein wenig weitersucht, findet im Werkverzeichnis des Saxophonisten Peter Dahm eine Fantasie für Jazzquartett und Streichertrio über die Erlebach’sche Triosonate Nr. 2 in e-Moll; Tobin Christopher Sparfeld machte zwei Erlebach-Kantaten sogar zum Gegenstand einer 200-seitigen Dissertation (im Volltext online unter http://scholarlyrepository.miami.edu). – Eine erstaunliche Rezeption angesichts von insgesamt nur etwa siebzig Werken, die nicht jenem Feuer zum Opfer fielen, das 1735 im Rudolstädter Residenzschloss aberhunderte Partiturseiten und damit beinahe ein ganzes musikalisches Lebenswerk vernichtete.
Als einziger Sohn des Auricher Hofmusikers und späteren Landvogts Johann Philipp Erlebach und dessen dritter Ehefrau Margarete Henrichs, der Witwe des Norder Organisten Lucas Felthusen, wurde Philipp Heinrich Erlebach am 25. Juli 1657 in Esens, der Residenz des Harlingerlandes, geboren. Man nimmt an, dass er in den Genuss einer allumfassenden höfischen Ausbildung im Auricher Grafenhaus Cirksena kam und sich bald in gleich drei Fremdsprachen zu verständigen wusste. Enge familiäre Bande dieser ostfriesischen Adelsfamilie nach Thüringen verhalfen dem Neunzehnjährigen 1678/79 zu seiner ersten und lebenslang einzigen Anstellung am Hof in Rudolstadt, zunächst in der Position eines Musicus und Cammerdieners, zwei Jahre später dann schon als Capelldirector beim Grafen Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt, der übrigens mit Æmilie Juliane verheiratet war, einer bedeutenden Dichterin geistlicher Lieder; Joh. Seb. Bach etwa verarbeitete ihr ›Wer weiß, wie nahe mir mein Ende‹.
In der Bestallungsurkunde Erlebachs findet sich eine recht konkrete Beschreibung seiner Arbeitspflichten wie etwa der, »die ordentlichen musikalischen Aufwartungen sowohl in der Kirchen als auch für der Tafel … fleißigst zu verrichten, wobey ihm aber frey steht, entweder seine eigenen compositiones oder auch andere nach seinem gut Befinden zu gebrauchen«. Eine das Rudolstädter Hofleben maßgeblich prägende pietistische Frömmigkeit, die zu einem Gutteil durch den Kirchenlieddichter und späteren Hofkanzler Ahasverus Fritsch befördert wurde, sorgte in Erlebachs Schaffen für ein beachtenswert umfangreiches Sakralwerk von rund 750 Kompositionen: konzertante Psalmen und Hymnen, Messen, Oratorien, Motetten und Kantaten, letztere auch vom Typ der sogenannten ›oratorischen‹ Kirchenkantate, als deren Schöpfer er gilt. Für die höfische Musikbibliothek, deren Bestand uns heute durch erhaltene Inventarlisten im Detail bekannt ist, schaffte er im Laufe seiner Amtszeit knapp 400 geistliche Vokalkompositionen ausgewählter Meister an.
Während Erlebach sich in der eigenen geistlichen Produktion vor allem an der deutschen Tradition orientierte, legten seine weltlichen Instrumentalwerke bei früheren Biographen noch die Vermutung nahe, er habe vielleicht in Paris studiert. Tatsächlich verstand er sich meisterhaft auf den Stil von Versailles und importierte ganz im Sinne seines Dienstherrn französische Klangpracht nach Thüringen. Neben Sigismund Kusser gilt Erlebach damit auf dem Gebiet der Suite als Meister unter den deutschen ›Lullisten‹. Dass er sich aber ebenso von italienischen Werken inspirieren ließ, beweisen seine Triosonaten aus dem Jahr 1694. Als Liedkomponist lieferte er mit seinen Sammlungen ›Harmonische Freude musicalischer Freunde‹ (1697/1710) sowie ›Gottgeheiligte Sing-Stunde‹ (1704) sogar eine Art Gattungsfazit des Jahrhunderts. Der frischgebackene Siemens-Musikpreisträger Peter Gülke beschreibt es so: »Die Werke spiegeln die ganze Vielfalt dessen, was das 17. Jahrhundert unter dem Begriff des Liedes zusammenfasste. Die Grenzen zur Solokantate wie zur Arie sind fließend. Erlebachs Sammlungen sind die letzten ihrer Art – gewiss nicht zufällig, denn im geschichtlichen Rahmen kann der Rudolstädter Hof als ein ›Rückzugsgebiet‹ jener Lebensstimmung gelten, ohne die die Liedproduktion des 17. Jahrhunderts, zumal seit Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, nicht zu denken ist.«
Mit dem Tod des Grafen Albert Anton und Amtsantritt seines Nachfolgers Ludwig Friedrich im Jahr 1710 schwächte sich der pietistische Einfluss auch in der Musizierpraxis ab. Der seit 1708 den Titel Capellmeister führende Erlebach profitierte von dieser Entwicklung jedoch nur noch dreieinhalb Jahre: Am 17. April 1714 verstarb er im Alter von 56 Jahren. Seine Witwe verkaufte den umfangreichen musikalischen Nachlass für 450 Reichstaler an den Rudolstädter Hof, wo er in die Bibliothek eingegliedert wurde. Und dann kam der 26. Juli 1735: Bei Experimenten mit Feuerwerkskörpern brach im Nord- und Westflügel der 60 Meter über Rudolstadt gelegenen Heidecksburg ein Feuer aus; die fürstliche Familie und alle Bewohner mussten evakuiert werden, zwei Flügel des Schlosses brannten bis zum Erdgeschoss nieder – und mit ihnen die einzigartige Musikbibliothek. Ob Erlebachs Werk ohne diese Tragödie bedeutenderen Einfluss auf den Lauf der Musikgeschichte genommen hätte, ist heute schwer zu sagen. Dem Musiktheoretiker Wolfgang Caspar Printz jedenfalls galt er unter den deutschen Komponisten als jener, welcher ›die meiste Satisfaction giebt‹. Um eine aktuelle wissenschaftliche Einschätzung wird sich am 10./11. Oktober 2014 in Weimar und Rudolstadt ein internationales Symposium bemühen (›Der Hofkapellmeister in Thüringen um 1700‹).
Alexander Reischert
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In eigener Sache
›Längst selbst historisch‹: Unter dieser Überschrift würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die 300. Ausgabe unseres Magazins.
Mit großem Vergnügen stellen wir den Artikel vom 21. Juni 2022 (F.A.Z. Nr. 142) als PDF zum Nachlesen zur Verfügung: hier klicken.
CONCERTO-Verleger und -Herausgeber Klaus-Jürgen Kamprad und Johannes Jansen
Foto: CONCERTO
ALTENBURG 300 + 30 + 250: Ein mittelschweres Zahlengewitter erwartete die Besucher am 16. August 2013 bei schönstem Sonnenschein im Residenzschloss Altenburg. Der Anlass war ein Jubiläumskonzert für den vor 300 Jahren geborenen Johann Ludwig Krebs, dessen Arbeitsplatz einst die berühmte Trost-Orgel in der Altenburger Schlosskirche war. Im gegenüberliegenden Festsaal stand er nun als Komponist von Kantaten und Konzerten im Mittelpunkt. Die Ausführenden an diesem festlichen Abend in Anwesenheit von Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen, waren die Merseburger Hofmusik und das Collegium Vocale Leipzig unter der Leitung von Michael Schönheit. Die Initiative zu insgesamt zehn Festkonzerten an verschiedenen Krebs’schen Wirkungsstätten war vom Verlag Klaus-Jürgen Kamprad ausgegangen, der im Jubiläumsjahr auch eine vier CDs umfassende Orchester- und Kantatenwerk-Edition samt Begleitbuch herausgebracht hat. Einen weiteren Anlass für das Konzert im Schloss mit anschließendem Empfang bot die im 30. Jahr seines Bestehens vorgelegte 250. Ausgabe des Magazins CONCERTO, das seit 2012 in Zusammenarbeit mit dem Kamprad-Verlag in Altenburg erscheint. Information: www.concerto-verlag.de und www.krebs300.de
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